Selbstverständnis

von JJL

Radikale Gesellschaftskritik vermag heute ein nur mehr marginalisiertes Dasein zu fristen. In linken „Freiräumen“, die sich als Biotope von Mittelschichtsempfindsamkeiten präsentieren und in denen die ästhetisierende Elendsverwaltung des zerfallenden Ichs zum Imperativ erhoben wird, hat das postmoderne Krisenbewusstsein längst schon jeden kritischen Gedanken unterminiert. Wo die Insistenz auf einem objektiven Wahrheitsgehalt gleichsam instinktiv als Ausdruck autoritärer Herrschaftsgelüste perhorresziert wird und die konziliante Relativierung der eigenen Position umso militanter deren bedingungslose Akzeptanz prätendiert, je weniger die Individuen sich imstande sehen, eine solche überhaupt noch zu beziehen, regiert der auf Selbstbespiegelung drängende Bestätigungswahn, dessen letztes Menschenrecht auf die Anerkennung des eigenen Bauchgefühls jedwede inhaltliche Kritik irreversibel zunichte macht. Die randständige Existenz radikaler Kritik ist daher eine Frage der schieren Selbsterhaltung.

Nicht zuletzt dieser grundsätzliche Bruch mit dem linken und feministischen Szenedasein ist der Anlass für die Etablierung der Gruppe fractura, deren VertreterInnen zumeist selbst in unterschiedlicher Weise die psychologistischen Mühlen einer sich zunehmend der Krisenverwaltung anverwandelnden Gesellschaftskritik durchlaufen haben. Der notorischen Theoriefeindlichkeit des linken Befindlichkeitskults kann einzig mit einer Zuspitzung der Gesellschaftskritik begegnet werden. Unterdessen hat die spätmoderne Verwilderung auch die marxistische und feministische Kritik zur zahnlosen postmarxistischen und postfeministischen Reflexionslosigkeit transformiert. Die völlige Ignoranz gegenüber gesellschaftlicher Totalität führte zu einem seichten Allerlei eklektizistischer Konzeptionen, die seitdem am Markt der Meinungen um Anerkennung buhlen und dabei nur mehr schlecht als recht über ihre eigene gesellschaftliche Irrelevanz hinwegzutäuschen vermögen. Dass das Feld der gesellschaftskritischen Theoriebildung durch zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Fraktionen um zentrale Grundpositionen in Wirklichkeit längst abgesteckt ist, muss dabei umso mehr verdrängt werden.

Die Gruppe für kategoriale Kritik vertritt innerhalb dieses Feldes die Wert-Abspaltungs-Kritik, welche primär von Robert Kurz und Roswitha Scholz begründet wurde. In ihrer Bewahrung und Weiterentwicklung besteht der Anspruch von fractura. Der von ihr zu vollziehende kategoriale Bruch erstreckt sich somit über die kategoriale Kritik an der Bewegungslinken hinaus gleichfalls auf die grundlegende Infragestellung der bürgerlichen Form Theorie in ihrer wissenschaftlichen Identitätslogik. Die Wert-Abspaltungs-Kritik umfasst dabei verschiedene basale Grundlagen, die sich im Zuge des Theoriebildungsprozesses und der ihn begleitenden inhaltlichen Auseinandersetzungen als innerer Zusammenhang des Ansatzes herauskristallisiert haben.

In seiner ersten Phase fokussierte er die Kritik an der historischen Linken, das heißt vor allem die der marxistischen Arbeiterbewegung. Die Einsicht, dass die Programmatik einer Verstaatlichung der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse keineswegs eine bruchlose Weiterführung der Marxschen Theorie darstellte, führte zur Unterscheidung eines „doppelten Marx“: dem Modernisierungstheoretiker, der die kapitalistische Gesellschaft in soziologistischer Verkürzung auf ihren Klasseninhalt reduzierte und bei der bürgerlichen Glorifizierung der Arbeit Anleihen machte, steht der Fetischkritiker gegenüber, der die dem Klassenkampf zugrunde liegenden kategorialen Daseinsformen ins Visier nahm und die Realabstraktion Arbeit als destruktive Basiskategorie der kapitalistischen Gesellschaft dechiffrierte. Das dadurch eröffnete immanente Spannungsfeld des Marxschen Werkes wurde von der Arbeiterbewegung zugunsten der Rezeption des modernisierungsideologischen Strangs aufgelöst, wohingegen die als abstrakt und schwer verständlich deklassierten fetischkritischen Inhalte der Vergessenheit anheimfielen.

Insbesondere die radikale Krisentheorie wurde für den wert-abspaltungs-kritischen Reflexionsprozess fruchtbar gemacht. Seiner objektivierten Dynamik nach muss das Kapital notwendigerweise an eine absolute innere Schranke stoßen, in der sich das Mittel der ganzen Veranstaltung – der von der universellen Konkurrenz induzierte Zwang zur permanenten Produktivkraftentwicklung – gegen den fetischistischen Selbstzweck der Verwertung realabstrakter Arbeitssubstanz kehrt. Diese von Marx logisch abgeleitete innere Schranke des Kapitals manifestierte sich mit der Mikroelektronischen Revolution der 1980er Jahre. Indem das seither unmittelbar transnationale Kapital erstmalig mehr abstrakte Arbeit qua wissenschaftlich-technischer Rationalisierung aus dem Produktionsprozess ausgliedert als es durch die Erweiterung der Märkte zu kompensieren vermag, markiert die Postmoderne die Zerfallsepoche der globalen Verwertung des Werts. Der Kollaps der Sowjetunion erklärt sich aus dem Scheitern des östlichen Staatskapitalismus an den Kriterien des Weltmarkts, der selbst in eine fundamentale Krise geraten ist und die Programmatik einer Verstaatlichung der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse endgültig obsolet werden lässt.

Aber selbst der Fetischkritiker Marx sah als androzentrischer Theoretiker von der vergeschlechtlichten Konstitution des Kapitalismus sowie der selbständigen Qualität der kulturell-symbolischen und sozial-psychologischen Dimension der Vergesellschaftung ab. Die Verwertung des Werts ist für sich nicht existenzfähig, sie bedarf der gleichursprünglichen Abspaltungsform, die sich auf derselben Ebene der gesellschaftlichen Reproduktion befindet wie die Wert- und Kapitalform. Die an die Frauen delegierten reproduktiven Tätigkeiten der Hege und Pflege sowie des emotionalen und sexuellen Dienstes an der androzentrischen Subjektivität erscheinen als formloser und residualer Bereich, obwohl die geschlechtliche Abspaltung als übergreifendes Formprinzip durch alle Sphären der gesellschaftlichen Totalität hindurchgeht, die sich damit als eine gebrochene von Wert und Abspaltung erweist. Die globale Krise beruht daher nicht allein auf der inneren Schranke der Entsubstantialisierung des Kapitals, sondern ebenso auf der postmodernen Verwilderung des Patriarchats, dessen Analyse der dekonstruktivistische Postfeminismus gänzlich von seiner Agenda gestrichen hat.

Von hier aus war es lediglich noch ein kleiner Schritt, die Durchsetzungsideologie par excellence des 18. Jahrhunderts sowie die ihr eigene Legitimationsinstanz in Angriff zu nehmen: die bürgerliche Aufklärungsvernunft. Die demokratischen MenschenrechtsapologetInnen von Freiheit und Gleichheit verkennen systematisch, dass ihrem Rechtsuniversalismus der negative Universalismus von geschlechtlichem Abspaltungsverhältnis, Weltmarkt, transnationaler Konkurrenz und Verwertungszwang vorgeordnet ist, dessen Selektionsverfahren überhaupt erst darüber entscheidet, wer als Subjekt gilt. Die aus dem Verwertungszwang und damit der realabstrakten Arbeit herausfallenden Individuen verlieren den Status des Mensch-Seins; der objektive Selektionsmechanismus des negativen Universalismus koinzidiert mit dem subjektiven Selektionsmechanismus sexistischer, rassistischer und antisemitischer Ideologien, in denen das männlich-weiße, westliche Subjekt die kapitalistischen Zumutungen mörderisch veräußerlicht. „Kategoriale Kritik“ ist daher zwangsläufig immer auch Ideologiekritik.

Diese elementaren Inhalte wert-abspaltungs-kritischer Theoriebildung einer an Marx orientierten Fetischkritik, der geschlechtlichen Abspaltungstheorie und einer radikalen Kritik der bürgerlichen Vernunft verbürgen jedoch keinen sistierten Theoriefundus, an dessen Resultaten die zu kritisierenden Positionen äußerlich zu messen wären. Kategoriale Kritik entspricht ihrerseits einem Prozess, weswegen sich ihre negative Kraft einer überlegenen Erklärung der gegenwärtigen Verhältnisse immer wieder an der historischen und gesellschaftlichen Konkretion der Analyse beweisen muss. Angesichts der im Laufe der Postmoderne festzustellenden Abrüstung der Gesellschaftskritik, die parallel zum globalen Zerfallsprozess der Wert-Abspaltungs-Gesellschaft verläuft, pocht die Gruppe für kategoriale Kritik auf die Eigenständigkeit der Theoriebildung gegenüber der hartnäckigen Forderung ihrer praktischen Anwendbarkeit. Speziell in dieser Hinsicht vollzieht die Gruppe für kategoriale Kritik den Bruch mit dem tradierten Theorieverständnis der bürgerlichen Vernunft und ihrer gesellschaftskritischen Derivate.

Die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unverkennbar sich abzeichnende Perspektivlosigkeit der postmodernisierten Linken kann indes nicht einfach voluntaristisch zurückgedreht werden – ihre globale Paralyse zeugt von ihrer objektiven Bedeutungslosigkeit. Gesellschaftskritik hat in ihrem derzeitigen Zustand keinerlei unmittelbare gesellschaftliche Eingriffsmacht und dieser Status quo ist von Seiten radikaler Kritik zur Kenntnis zu nehmen, anstatt ihn durch eine leerlaufende Pseudo-Praxis zu kaschieren. Inmitten dieser gesellschaftlich hergestellten Ohnmachtssituation an der transzendierenden Perspektive einer letztlich auch praktischen Überwindung der transnationalen Wert-Abspaltungs-Form festzuhalten und sich der Selbstpreisgabe der Reflexion an den barbarisierenden Zerfall der Weltgesellschaft zu verweigern, ist daher der grundlegende Anspruch der Gruppe fractura.