Kommentar zum Ressentiment gegen Israel
Je brutaler die Attacken gegen den jüdischen Staat und seine Bevölkerung, desto größer die internationale Solidarität mit den geschundenen Palästinensern. Dieses Gesetz galt seit jeher für die regelmäßigen Versuche palästinensischer Banden und arabischer Staaten, die propagandistischen Montagen nahöstlicher Landkarten wahr werden zu lassen, auf denen kein israelischer Staat mehr existiert. Was ein befreites Palästina „from the river to the sea“ bedeuten würde, konnte man schon wissen, bevor die Hamas am 7. Oktober in einem bisher beispiellosen Versuch an dessen Verwirklichung arbeitete: den Massenmord an den Juden. Nie hatte die Hamas Anderes propagiert, nie hatte sie Zweifel an ihrem unbedingten Vernichtungswillen gelassen, zu dessen voller Umsetzung ihr lediglich die Mittel fehlten. Dass es ihr nun doch zur unvorstellbaren Freude ihrer Anhänger gelang, die israelischen Grenzanlagen zu überwinden und sich an den eigenen Bluttaten zu berauschen, triggert im internationalen Politik- und Medienbetrieb in affektiver Umkehr das scheinbar unerschöpfliche Mitleid mit den Palästinensern und spiegelverkehrt die abgeklärte Kälte, mit der die israelischen „Racheaktionen“ als unverhältnismäßig und unmenschlich gegeißelt werden. Der Schock über das Massaker an israelischen Zivilisten währte nur wenige Tage, bevor die altbekannten Deutungsmuster des sogenannten Nahost-Konflikts wieder einrasteten. Kaum hatte das israelische Militär die Gewalthoheit im eigenen Land wiederhergestellt und die aus Gaza eingedrungenen Terrorkommandos eliminiert oder zum Rückzug gezwungen, war man bereits darum bemüht, die israelische Gegenwehr nach Kräften zu delegitimieren. Die notorisch anti-israelischen Vereinten Nationen etwa fordern in ihrer jüngsten Resolution eine Waffenruhe und die Einstellung der Feindseligkeiten auf beiden Seiten, womit antisemitischer Mord und notwendige Selbstverteidigung zu ununterscheidbaren Momenten einer ominösen „Eskalation“ verklärt werden. „Humanitär“ ist an den Einlassungen der UN lediglich ihr Jargon, findet sich doch in der Resolution nicht einmal die Mindestforderung nach einer bedingungslosen und sofortigen Freilassung der über 200 Geiseln, die sich noch immer in den Händen der Hamas befinden.[1] Kein Wunder also, dass die Hamas die Resolution der UN begrüßte, deren Generalsekretär Antonio Guterres zuletzt von einer „kollektiven Bestrafung des palästinensischen Volkes“ raunte und tendenziös proklamierte, dass die Attacken der Hamas „nicht im luftleeren Raum“ geschehen seien – dem israelischen Staat also mindestens eine Mitschuld an der Abschlachtung seiner Bürger attestierte, der diese durch seine nachfolgende „beispiellose Eskalation“ nun erneut unter Beweis stelle.[2] Auch da, wo dem Judenstaat generös ein „Existenzrecht“ oder gar ein „Recht auf Selbstverteidigung“ zugestanden wird, erscheint der Antisemitismus stets als zwar fehlgeleitete, aber doch verständliche Reaktion der Verzweifelten und Unterdrückten gegen ihren Aggressor. Immerzu wird in dieser Rationalisierung der Zusammenhang zwischen dem vermeintlich ursächlichen Verhalten der Juden bzw. des israelischen Staates und der antisemitischen Ideologie als einer daraus resultierenden Reaktion unterstellt, mithin die projektive Kausalkette des Judenhasses übernommen.
Werden im Nahen Osten Juden gelyncht, evoziert das unmittelbar und weltweit das Ressentiment gegen die Angegriffenen, die umstandslos zu Tätern und Verursachern nicht nur des palästinensischen, sondern auch ihres eigenen Leidens unter dem Terrorismus erklärt werden. Allerorten demonstriert eine Mischung aus Palästina-Nationalisten, Islamisten, Antiimperialisten, Friedensbewegten und identitär-akademischen Antirassisten für ein (juden-)freies Palästina. In Berlin verteilten Hamas-Sympathisanten Süßigkeiten, um den Erfolg ihrer Helden zu feiern. Arabische Staaten setzten ihre politische Annäherung mit Israel aus, Berliner Wohnhäuser werden mit Davidsternen markiert und symbolisch zum Abschuss freigegeben, an amerikanischen Universitäten wird der Terror als Freiheitskampf gefeiert und die Gruppe „fridays for future“, die sich ansonsten für soziales Elend nur dann interessiert, wenn es mit dem Klimawandel zusammenhängt, lässt es sich nicht nehmen, die israelische Gegenwehr als „Genozid“ zu verunglimpfen. Im russischen Nordkaukasus war die Anteilnahme eines muslimischen Mobs für seine fernen brothers in crime gar so groß, dass er das Rollfeld eines Flughafens stürmte, um israelischer Passagiere habhaft zu werden, die dort mit einer Maschine aus Tel Aviv eintrafen. Das Phantasma Palästina dient offenbar einer globalen Allianz der Antisemiten bürgerlicher, islamischer und links-islamophiler Provenienz als gemeinsamer identifikatorischer Anker.
Diese affektive Identifikationswut bildet den genuinen Artikulationsmodus der antisemitischen Ideologie, deren Kritik sich daher auch nicht mit Verweisen auf historische Wahrheit begnügen kann, die gerade in Bezug auf Israel permanent verzerrt und umgebogen wird. Erklärungsbedürftig ist vielmehr, warum die obsessive Verurteilung Israels sich gegen eben diese Wahrheit immun zeigt und warum der Krieg im Nahen Osten wie kein anderer das Potenzial birgt, die Gerechten und die Freunde des Friedens weltweit in Rage zu versetzen. Wie sich im Kollektivsingular des Juden für den Antisemiten alles Übel moderner Vergesellschaftung verdichtet, wie „der Jude“ zur Inkarnation gesellschaftlicher Herrschaft erklärt und damit als alles beherrschender Übermensch imaginiert wird, so figuriert Israel heute als aggressiver, anti-moralischer und destruktiver Über-Staat. Als koloniales Apartheidsregime, als bis an die Zähne bewaffneter Rassenstaat ziele dieser auf absolute Herrschaft um der Herrschaft willen.[3] Abgeladen wird in diesem projektiven Bild des Bösen sui generis indes nicht nur alles denkbare Übel staatlicher Herrschaft, sondern auch die Herrschaftsgelüste der Antisemiten selbst. Was Horkheimer und Adorno mit Blick auf den Nationalsozialismus für die psychische Disposition der Antisemiten konstatierten, trifft auch heute noch unter veränderten historischen Bedingungen zu: „Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. […] Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer.“[4] Im Bild des Juden tritt dem Antisemiten sein eigenes Wesen gegenüber. So wird dem Staat Israel, dessen Bevölkerung zu 20% aus Nicht-Juden besteht, der Wahn rassischer Reinheit unterstellt, während es in Wahrheit seit 1948 die palästinensischen Organisationen waren, die eine Koexistenz mit den Israelis ablehnten und sich einen palästinensischen Staat nur als judenrein denken konnten. So skandiert man „Kindermörder Israel“ und unterstellt die Lust am Ermorden von Zivilisten, während umgekehrt die Hamas mit Duldung der palästinensischen Bevölkerung israelische Zivilisten abschlachtete und dies auch als ihr dezidiertes Ziel auswies. So wird Israel der Genozid von denen attestiert, die ihn an den Juden zu vollziehen suchen. „Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt.“[5] Der Reiz, sich mit den Palästinensern zu identifizieren, liegt ex negativo im Widerstand gegen den absolut bösen israelischen Über-Staat beschlossen, an dem einerseits die gesellschaftliche Herrschaft auf konformistische – weil projektive – Weise angeprangert und zugleich die eigenen aggressiven Triebwünsche gebrandmarkt werden. Aller inneren und äußeren Widersprüche entledigt, feiert sich der Antizionist in seiner purifizierten Gerechtigkeit und moralischen Herrlichkeit.
Die „pathische Projektion“[6] offeriert dem Subjekt einen Ausweg aus dem Unbehagen an der Gesellschaft, indem es sie in den Antagonismus von Gut und Böse aufspaltet und dem Subjekt in der Ideologie die entlastende Eindeutigkeit verschafft, die in der Realität nicht zu haben ist. Die affektive Kraft der antisemitischen Ideologie zeigt sich letzten Endes da, wo sie in die Selbstdestruktion mündet. Die Hamas stellt den Kampf gegen Israel nicht nur über das Wohlergehen der Zivilbevölkerung in Gaza, sondern auch über ihr eigenes. Im Wissen um die israelischen Reaktionen arbeitet die Hamas seit ihrem Bestehen daran, dem jüdischen Staat größtmöglichen Schaden zuzufügen, koste es, was es wolle. Selbsterhaltung steht hinter dem Wahn zurück. Die Tötung der eigenen Schergen, die Zerstörung der militärischen Infrastruktur bis hin zur völligen Zerschlagung der eigenen Organisation durch die IDF wird wissentlich in Kauf genommen, weil die Möglichkeit von Frieden mit dem Tod der Juden in eins gesetzt wird. „Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse [wie der islamistische Glaubensbruder, PS] rechnet, ist die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv. Je weniger sonst herauskommt, umso verstockter hält man sich wider die bessere Erkenntnis an die Bewegung. Gegen das Argument mangelnder Rentabilität hat sich der Antisemitismus immun gezeigt. Für das Volk ist er ein Luxus.“[7] Wem das Wohl der palästinensischen Bevölkerung tatsächlich ein Anliegen ist, der muss zuallererst eine vom Vernichtungswahn getriebene Hamas-Regierung im Gazastreifen ächten, die die eigene Bevölkerung als menschliches Schutzschild instrumentalisiert, die ihre Raketenrampen und Terrorbasen an und in Schulen, Krankenhäusern und Wohnblocks positioniert, um aus den zivilen Schäden propagandistischen Nutzen zu schlagen, die ferner alle finanziellen Mittel in ihren Weltanschauungskrieg investiert statt in soziale Infrastruktur. Dass stattdessen Israel als notorischer Friedensbrecher imaginiert wird, zeigt nicht nur den Verlust an kritischer Urteilskraft in der Linken und darüber hinaus an, sondern auch, wie sehr man hierzulande und weltweit am affektiven Luxus des Antisemitismus partizipiert.
[1]https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/LTD/N23/319/20/PDF/N2331920.pdf?OpenElement, zuletzt eingesehen am 31.10.2023.
[2]https://www.welt.de/politik/ausland/article248181736/UN-Generalsekretaer-Guterres-relativiert-Hamas-Terror-Nicht-im-luftleeren-Raum.html, zuletzt eingesehen am 31.10.2023.
[3]Als prominentes Beispiel unter vielen vgl. Achille Mbembe, der eine „fanatische Zerstörungsdynamik“ Israels zu erkennen glaubt, „die darauf abzielt, das Leben der Palästinenser in einen Trümmerhaufen und einen zur Entsorgung bestimmten Berg aus Müll zu verwandeln.“ Mbembe, Achille: Politik der Feindschaft. Frankfurt a. M. 2017, S. 86.
[4]Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 2012, S. 196.
[5]Ebd., S. 193.
[6]Ebd., S. 201.
[7]Ebd., S. 179.