Am Ende kam alles ganz plötzlich: „Berlin zeigte sich vom schnellen Siegeszug der Kämpfer überrascht“[1], schrieb die SZ am 16. August. Dabei ist wohl kaum etwas überraschender und gleichzeitig verlogener hinsichtlich der jüngsten Entwicklungen in Afghanistan als die allseitige „Überraschung“ darüber, wie schnell doch alles letztlich ging. Dass die afghanische Nationalarmee ein vom Westen finanziertes Phantasma war, welches den Taliban nichts entgegenzusetzen hatte, war allen Beteiligten seit Jahren bekannt. Angesichts dieser Blamage setzt die westliche Polit-Prominenz zunehmend auf ihre scheinbar letzte Karte: Ein kollektiver Agnostizismus macht sich breit hinsichtlich dessen, was der afghanischen Bevölkerung nun blüht:
„Es stört mich daher schon, in einigen Medien vom ‚gescheiterten Bundeswehreinsatz’ zu lesen. Das ist sehr deutsch fokussiert und trifft die Dimension dieses internationalen Engagements überhaupt nicht. Und es gab ja auch Erfolge, unter vielem anderen die Alphabetisierung, die Verbesserung der Basis-Gesundheitsversorgung, die Medienvielfalt. Deren Nachhaltigkeit ist jetzt allerdings zum Teil vom weiteren Verhalten der Taliban abhängig“[2],
so der ehemalige „Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr“, Rainer Glatz, im Interview mit der ZEIT. Man sollte meinen, ein ausgedienter Militär müsste wissen, was die Taliban von „Medienvielfalt“ und all den schönen Dingen halten. Nichts da: Genau in dem Moment, da die Geschichte Afghanistans den direkten Weg in Richtung Barbarei nimmt, bleibt man gespannt auf das vermeintlich unvorhersehbare „weitere[ ] Verhalten der Taliban“. Nicht weniger agnostisch gibt man sich indes bei der UN:
„Der UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten, Martin Griffiths, hielt sich am Sonntag zu Gesprächen mit der Taliban-Führung in Kabul auf. […] Er forderte die Taliban auf, insbesondere die Rechte von Frauen im Allgemeinen und Mitarbeiterinnen der Hilfsorganisationen im Besonderen zu respektieren.“[3]
Ähnliche Aussagen westlicher PolitikerInnen, KommentatorInnen etc. lassen sich dieser Tage[4] zuhauf finden. Man reibt sich die Augen: die Taliban und Frauenrechte? Medienvielfalt? War da nicht mal was? Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 schien jedes Kindergartenkind im Westen zu wissen: Islamisten sind böse. Woher also nun die Offenheit der westlichen Funktionseliten gegenüber genau derjenigen Terrormiliz, deren Name noch bis vor kurzem neben al-Qaida und dem IS als der Inbegriff des Bösen galt? Und woher die dummdreiste allgegenwärtige Behauptung, es sei gar nicht abzusehen, wofür die Taliban letztlich stünden?
Afghanistan und der „Kollaps der Modernisierung“
Glatzs Empörung über den Vorwurf eines „gescheiterten Bundeswehreinsatzes“ ist freilich nicht völlig unberechtigt, wenngleich in einem gänzlich anderen als dem von ihm intendierten Sinne. Die allgegenwärtige Phrase vom „Scheitern des Westens“ unterstellt dem Westen konsequent eine Potenz, die er nie hatte. Um zu klären, warum dies so ist, bedarf es einer kurzen historischen Rückblende.
Seit bereits mehreren Jahrzehnten werden große Teile der kapitalistischen Peripherie (in zunehmendem Maße auch des Zentrums) von Bürgerkriegen, mafiösen Plünderungsökonomien und religiösen Fundamentalismen unterschiedlichster Couleur heimgesucht. Was im westlichen Räsonnement als Ausdruck einer vermeintlich „afrikanischen“ oder „islamischen Wesensart“ gilt, ist tatsächlich Resultat der fundamentalen Krise des globalen Weltsystems, in dem ein Großteil der Menschheit ökonomisch überflüssig gemacht wird: Der durch die mikroelektronische Revolution induzierte Produktivkraftschub ab den 1970er Jahren verdrängt endgültig mehr Menschen aus dem Produktionsprozess, als durch die Erschließung neuer Absatzmärkte kompensiert werden könnte – eine Entwicklung, die von Karl Marx in den „Grundrissen“ bereits in ihrem Kern vorweggenommen und ab den 1980er Jahren von der Wertkritik – später dann Wert-Abspaltungs-Kritik – um den linken Theoretiker Robert Kurz als „Kollaps der Modernisierung“ analysiert wurde. Trotz ihrer ökonomisch objektiven Überflüssigkeit bleibt die überwiegende Mehrheit der Menschen jedoch weiterhin darauf angewiesen, qua Lohnarbeit den eigenen Unterhalt zu verdienen: Arbeitslos zu werden, bedeutet bekanntermaßen nicht die Möglichkeit einer endlich selbstbestimmten Planung der nun vermeintlich hinzugewonnenen Lebenszeit, sondern das genaue Gegenteil. Was sich in den Industrieländern seit den 1980er Jahren nicht zuletzt in Massenarbeitslosigkeit, Niedriglohnsektoren und Drangsalierung durch Jobcenter & Co. ausdrückt, findet global gesehen sein Pendant in Massenflucht, Staatspleiten und Abhängigkeit von IWF-Krediten (und den damit einhergehenden neoliberalen Deregulierungsprogrammen) bis hin zur völligen Aufgabe jeder noch so prekären nationalstaatlichen Kohärenz, sofern es denn im Zuge nachholender Modernisierung überhaupt je zu einer solchen gekommen war.
Der afghanische Staat ist ein Musterbeispiel für eben jene Entwicklung. Obwohl bereits seit 1919 de facto unabhängig, kam es in den folgenden Jahrzehnten zu keiner industriellen Entwicklung, die das Land in irgendeiner Form international „wettbewerbsfähig“ gemacht hätte:
Afghanistans „Pufferfunktion und zeitweilige Isolation im kolonialen Wettlauf um Mittelasien im 19. Jahrhundert und im Kalten Krieg machten es zum Rentierstaat. Zahlungen aus Ost und West enthoben seine Regierungen der Verpflichtung, die Wirtschaft zu entwickeln.“[5]
Noch vor Ende des Kalten Krieges führten die sowjetische Invasion sowie der darauf einsetzende Bürgerkrieg zwischen sowjetischen Truppen und Mudschahedin zur völligen Zerrüttung eben jenes Rentierstaates. Nach dem Abzug der Sowjet-Truppen 1989 eskalierten die inner-islamistischen Fehden endgültig, nachdem bereits unter dem pro-sowjetischen Regierungschef Nadschibullah große Teile des verbliebenen staatlichen Gewaltmonopols an lokale Milizen abgetreten worden waren: „Mit der Etablierung dieser Milizen verlor die afghanische Regierung endgültig das Gewaltmonopol.“[6] Auch nicht unbeträchtliche Teile der noch bestehenden Infrastruktur kamen unter die Räder:
„Als die Mafia dann ihre Geschäfte ausweitete, wurde auch Afghanistan ziemlich gerupft. Millionen Morgen Wald wurden in Afghanistan für den pakistanischen Markt geschlagen – eine Wiederaufforstung fand nicht statt. Alte Fabriken, Panzer und andere Fahrzeuge wurden ausgeschlachtet, Strom- und Telefonmasten abgeschlagen, um an das Eisen zu kommen, das dann an Stahlfabriken in Lahore verkauft wurde.“[7]
Somit war es kein Wunder, dass sich die Taliban ab Mitte der 1990er Jahre durchaus als Ordnungsmacht gerieren konnten, welche dem wilden Treiben der Mudschahedin ein Ende bereiten würde – wenngleich sie selbst beste Verbindungen zu mafiösen Strukturen hatten.
Der Westen zeigte zu diesem Zeitpunkt nur noch bedingtes Interesse am zerfallenden afghanischen Staat. Die vermeintliche Ordnungsfunktion der Taliban wurde durchaus begrüßt, erhoffte man sich von ihnen doch die notwendige Stabilität für den Bau einer Pipeline, welche mitten durch das zerrüttete Land führen sollte:
„Nur wenige Stunden, nachdem die Taliban Kabul erobert hatten, verlautete aus dem US-Außenministerium, man würde diplomatische Beziehungen zu den Taliban aufnehmen und einen Delegierten nach Kabul entsenden – eine Ankündigung, die […] schnell wieder zurückgezogen wurde. Der Sprecher des Außenministeriums Glyn Davies erklärte, die USA fänden ‚nichts Anstößiges‘ an der Absicht der Taliban, islamisches Recht zu verhängen. Er beschrieb die Taliban eher als antimodern, nicht unbedingt antiwestlich. US-Kongressabgeordnete schalteten sich zu ihren Gunsten ein. ‚Das Gute an allem ist, dass endlich eine der Gruppierungen in Afghanistan imstande zu sein scheint, eine Regierung zu bilden‘, sagte Senator Hank Brown, ein Befürworter des Unocal-[Pipeline-]Projekts.“[8]
In der Tat kam es in den folgenden Jahren zu verschiedenen Verhandlungen zwischen den USA, den Taliban, den Mudschahedin sowie verschiedenen Nachbarstaaten Afghanistans. Diese Verhandlungen wurden ihrerseits jedoch zunehmend überschattet von einer weiteren Entwicklung, die auch die letzte Hoffnung auf kapitalistische „Stabilität“ zunichte machte: Eine weitere islamistische Organisation unter dem Namen al-Qaida erklärte Anfang 1998 in ihrer „Erklärung der Internationalen Islamischen Front für den Heiligen Krieg gegen die Juden und Kreuzfahrer“:
„Folglich und entsprechend dem Befehl Gottes teilen wir allen Muslimen das folgende Urteil mit: Die Amerikaner und ihre Verbündeten zu töten, ob Zivilisten oder Soldaten, ist eine Pflicht für jeden Muslim, der es tun kann, in jedem Land, wo er sich befindet […].“[9]
Zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges sah sich die nunmehr letzte Weltmacht USA einem global agierenden Gegner gegenüber, der in kein klassisches politisches oder militärisches Raster mehr passte. Den darauffolgenden, von al-Qaida durchgeführten Terroranschlägen in Tansania und Kenia wussten die USA somit nicht anders zu begegnen als mit dem hilflosen Abfeuern von Raketen auf Afghanistan und den Sudan (eine Art der Kriegsführung, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird). Die Auslieferung Osama bin Ladens wurde in der Folge eine der Hauptforderungen der USA gegenüber den Taliban, während sich diese jedoch nicht zuletzt aufgrund der gegen sie erhobenen internationalen Sanktionen immer weniger gesprächsbereit zeigten. Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wendete sich endgültig das Blatt: Nur einen Monat später begann die Operation „Enduring Freedom“.
Sowohl in militärischer als auch politischer Hinsicht baute der Westen von Anfang an auf jene Warlords, gegen die die Taliban ins Feld gezogen waren. Was in der Folge und letztlich bis heute von vielen Seiten als gravierende Fehlentscheidung bewertet wurde, war jedoch nur allzu logisch, war doch weit und breit keine andere Ordnungsmacht in Sicht, auf die der Westen bauen konnte. Dass Mafia-Chefs keine solide Grundlage für die Stabilisierung einer Region bilden, mag den westlichen Funktionseliten dabei durchaus bewusst gewesen sein: Aber es war eben das Beste, was man kriegen konnte. Die neue Regierung unter Hamid Karzai glänzte ebenso folgerichtig durch die Fortsetzung der Korruption sowie durch massive Wahlmanipulation. Die Taliban konnten zwar ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet vertrieben, nie jedoch wirklich „besiegt“ werden. Kein Wunder: Handelte es sich bei ihnen doch nicht um eine Armee, die man im Sinne eines klassischen Krieges hätte besiegen können – und dies ist die einzige „Handlungsebene“, auf der eine moderne Armee „siegen“ kann –, sondern um ein Resultat des bereits in den 1980er Jahren einsetzenden politisch-ökonomischen Zerfalls und der damit einhergehenden ideologischen Barbarisierung.
Dieser offen klaffende Widerspruch blieb freilich nicht unbemerkt. Schon sehr früh waren in den internationalen Medien Stimmen zu hören, die das Fehlen einer weitergehenden „Strategie“ im Nahen Osten beklagten und dies bis heute tun. Geradezu paradigmatisch ist das Schlusswort in Ahmed Rashids Klassiker über die Geschichte der Taliban:
„Die Taliban werden eine weltweite Bedrohung bleiben, solange die muslimischen Regierungen und der Westen den Extremismus nicht entschlossen bekämpfen und die Lösung der dringenden Probleme dieser Region – Armut, wirtschaftliche Misere, mangelnde Schulbildung und Arbeitslosigkeit – nur halbherzig oder gar nicht angehen. Ein umfassendes neues soziales und wirtschaftliches Entwicklungsprogramm ist nicht nur für Afghanistan, sondern auch für Pakistan und Zentralasien dringend nötig, wenn es eine langfristige Antwort auf die Bedrohung durch Taliban und Al-Qaida in der Region geben soll.“[10]
Auffällig an dieser Forderung, wie sie seit nunmehr zwanzig Jahren vielerseits wiederholt wird, ist die Tatsache, dass nur selten wirklich ausgeführt wird, wie genau ein solches „Entwicklungsprogramm“ aussehen soll. Diese Leerstelle ist freilich nicht unbegründet, dünkt es doch auch dem letzten noch so „positiv denkenden“ Politkommentator, dass ein derartiges Programm reine Illusion ist. Wie bereits dargelegt, war Afghanistan immer schon abhängig von ausländischer Unterstützung und hatte nie ansatzweise eine bestimmende Rolle auf dem Weltmarkt spielen können. Umso abwegiger ist somit die Vorstellung, Afghanistan (bzw. die ganze Region) könnte nun gewissermaßen im Schnelldurchgang das Produktionsniveau des Westens erreichen, diesen letztlich qua hoher Exportrate niederkonkurrieren und mit billigen Waren zuschütten – die einzige Option für eine „tragende Ökonomie“, die es unter globalen Konkurrenzverhältnissen geben kann. Ja mehr noch: Die Krisenregionen sollen dies nicht (gewissermaßen als verspäteter oder gar wiederholter antikolonialer Akt) aus eigener Kraft schaffen. Nein, die potentiell ökonomisch niederzuringenden westlichen Staaten sollen ihrerseits auch noch für einen solchen Prozess Sorge tragen und ihn finanzieren – eine gar verrückte Vorstellung. Es hat schon etwas von einer kollektiven Amnesie, wie dieselben Leute, die den kapitalistischen „Krieg aller gegen alle“ für eine anthropologische Grundbestimmung des Menschen halten („Der Mensch ist halt so“), gleichzeitig in globalen „humanitären“ Fragen nichts von Konkurrenzverhältnissen wissen wollen und eine letztlich heile Welt imaginieren, in der alles vom guten politischen Willen der (in diesem Fall internationalen) Akteure abhinge.
Dementsprechend desaströs sah denn auch die reale ökonomische Entwicklung Afghanistans seit der Intervention aus:
„2013 spitzte sich in Afghanistan die Wirtschaftskrise zu. Die Eigeneinnahmen des Staates sanken, bei bereits seit 2010 abnehmenden Transfers der Geberländer. Die USA, der größte Geber, reduzierten ihre Finanzhilfe zwischen 2010 und 2012 von 4,5 auf 1,8 Milliarden Dollar. Das Wirtschaftswachstum, das zwischen 2002 und 2012 bei durchschnittlich 9 Prozent gelegen hatte, brach 2013 ein und halbierte sich 2014 noch einmal auf 1,5 Prozent. Die Hauptsache dafür ist, dass sich das vorherige Wachstum zu großen Teilen aus den Milliarden-Aufträgen des nun abziehenden westlichen Militärs gespeist hatte. Branchen wie Bauwesen, Logistik oder Sicherheitsdienstleister boomten – und nun vergibt die lokale Wirtschaft kaum noch Aufträge. Selbst die sonst eher optimistische deutsche Bundesregierung gibt in ihrem Fortschrittsbericht 2014 zu Afghanistan zu, dass das Wirtschaftswachstum nicht selbsttragend war.“[11]
Die Abhängigkeit Afghanistans von sogenannten „Geberländern“ war also alles andere als verschwunden. Doch selbst dieses entweder direkt durch ausländische Gelder oder sekundär durch die schlichte Präsenz des westlichen Militärs ausgelöste „Wachstum“ betraf größtenteils die großen Städte, nicht zuletzt die Hauptstadt Kabul. Die ländlichen Regionen hingegen, über welche weder die Kabuler Zentralregierung noch die westlichen Truppen jemals die volle Kontrolle gewinnen konnten, hatten nur wenig von diesem marginalen, künstlichen „Aufschwung“ profitiert. Ein recht unkonventioneller Wirtschaftssektor ist in diesen Gegenden bis heute entscheidend:
„Im arbeitsintensiven Opiumanbau sind derzeit [Stand 2015] etwa drei Millionen Menschen beschäftigt, rund ein Zehntel der Bevölkerung. […] Während der Erntezeit greifen die Bauern auf zusätzliche 300.000 Erntehelfer zurück, die dann der Arbeit nach vom warmen Süden in den kühleren Norden ziehen. […] Mit rund 3 Milliarden Dollar ist der Exportwert der afghanischen Drogen höher als der aller anderen Exporte des Landes zusammen. […] Mit afghanischem Heroin wird mehr Geld im Ausland verdient als am Hindukusch selbst. Trotzdem ist die Drogenproduktion der mit Abstand größte und lukrativste Wirtschaftszweig des Landes, der zugleich andere Bereiche der lokalen Ökonomie befeuert. ‚Die Produktion von Schlafmohn, die Verarbeitung zu Opium und dessen Transport sind zum Hauptarbeitgeber in Afghanistan geworden, zu seiner Hauptkapitalquelle und zur Basis der Ökonomie‘, sagt Antonio Maria Costa, bis 2010 oberster UNODC-Chef.“[12]
Schlafmohn als einzige noch weltmarktfähige Exportware: Nichts illustriert den Zustand großer Teile der kapitalistischen Peripherie besser als dieser bittere Realzynismus.
Noch offensichtlicher als das Scheitern jeglicher ökonomischen „Entwicklung“ – wenngleich mit dieser aufs Engste verbunden – war das Unvermögen der NATO unter Führung der USA, für jegliche noch so prekäre politisch-militärische Stabilität zu sorgen. Bereits die starke Fokussierung auf die Person Osama bin Laden in den 1990er Jahren war Ausdruck einer zunehmenden Irrationalisierung des militärischen Betriebs, war doch von Anfang an klar, dass eine Festnahme oder Liquidation bin Ladens nichts als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein gewesen wäre. Dies umso mehr, als es sich bei al-Qaida nicht mehr um eine klar identifizierbare „Institution“ wie einen feindlichen Staat handelte, sondern um ein undurchsichtiges transnationales Netzwerk mit umso undurchsichtigeren Kommandostrukturen inmitten von Zerfallsregionen.
Dasselbe Problem stellte sich sodann im Zuge der Operation „Enduring Freedom“. Ähnlich wie zwei Jahre später im Irak war es für die Interventionsmächte – im Verbund mit ihren Warlord-Komplizen – vorerst ein Leichtes, den Gegner zu besiegen bzw. zu vertreiben. Dennoch zeichnete sich schon bald das ab, was den Hauptunterschied zwischen den jüngsten „Weltordnungskriegen“ (Kurz) und den zwischenstaatlichen Kriegen der vorangegangenen Jahrhunderte bildet:
„So sind die neuen Kriege dadurch charakterisiert, dass in ihnen fehlt, was die Staatenkriege gekennzeichnet hat: die Entscheidungsschlacht, die für Clausewitz ‚der eigentliche Schwerpunkt des Krieges‘ war. […] Während die klassischen Staatenkriege durch Rechtsakte wie Kriegserklärung und Friedensschluss vom Zustand des Friedens getrennt waren und es in ihnen […] kein Drittes zwischen Krieg und Frieden gab, haben die neuen Kriege weder einen identifizierbaren Anfang noch einen markierbaren Schluss.“[13]
Es kam also zu der paradoxen Situation, dass man die Taliban zwar einerseits zweifelsohne „besiegt“ hatte, indem man sie aus den großen Städten wie Kabul, Kandahar, Kunduz und Masar-e Scharif vertreiben konnte. Und dennoch kam es nie wirklich zu einem Abschluss der Kampfhandlungen. Umso panischer wurde die allgemeine Stimmung:
„Wer war der Feind? Die Taliban, Pakistan, alle Afghanen? Ein langjähriger US-Soldat ist davon überzeugt, dass mindestens ein Drittel der afghanischen Polizisten drogenabhängig und ein weiterer großer Teil Anhänger der Taliban war. Für die US-Soldaten war das ein großes Problem, wie ein großes Tier der Special Forces 2017 bekannte: ‚Sie dachten, ich käme mit einer Karte zu ihnen, um ihnen zu zeigen, wo die Guten und die Bösen leben. (…) Es waren mehrere Gespräche nötig, bis sie verstanden, dass ich diese Informationen nicht zur Hand hatte. Zuerst fragten sie einfach weiter: Aber wer sind die Bösen, wo sind sie?‘. Donald Rumsfeld äußerte so etwas bereits 2003: ‚Ich habe keinen Einblick, wer die Bösewichte in Afghanistan oder im Irak sind‘, schrieb er. ‚Ich lese alle nachrichtendienstlichen Informationen von unseren Leuten, und es hört sich so an, als wüssten wir eine ganze Menge, aber wenn man es genau betrachtet, stellt man fest, dass wir nichts haben, was brauchbar wäre. Wir haben ein beklagenswertes Defizit an menschlicher Aufklärung.‘“[14]
Die klassische militärische Feindaufklärung stößt in Zeiten allseitigen gesellschaftlichen Zerfalls an ihre Grenzen, da die Trennung von offiziell kämpfenden Armeen und (zumindest formell-kriegsrechtlich) zu schützender Zivilbevölkerung unmöglich wird, was eben die berühmte strukturelle Asymmetrie dieser relativ neuen Kriegsform ausmacht. Nicht auszuschließen, dass der den Bundeswehrsoldaten gestern noch freundlich zuwinkende Straßenhändler heute schon – sei es auch nur aufgrund von Geldmangel oder weil er gezwungen wird – bei den Taliban mitkämpft, nur um nächsten Monat schon wieder zu seiner regulären Tätigkeit zurückzukehren. Die abertausenden zivilen Toten alias „Kollateralschäden“ dieses Krieges sind somit nicht nur (wenngleich freilich auch) der Willkür der westlichen Truppen und Söldnerfirmen oder der fehlenden Treffsicherheit der vermeintlich ach so „präzisen“ Drohnen geschuldet: Die fehlende Unterscheidbarkeit von Freund und Feind ist ein objektives Problem für ein modernes Militär in Zerfallsregionen.
Dem hier beschriebenen Wandel in der Natur des Krieges inklusive seiner sich zuspitzenden Widersprüche entspricht gleichzeitig ein Wandel in der Natur des Imperialismus überhaupt, wie er sich seit Ende des Kalten Krieges vollzogen hatte. Ging es den alten, vor allem europäischen Großmächten zu Zeiten des polyzentrischen Imperialismus noch um die Aufteilung der Welt zwecks Erweiterung des jeweils eigenen Territorialgebiets, so kam den USA im Zuge des bipolaren Kalten Krieges nun die völlig neue Rolle des „ideellen Gesamtimperialisten“ (Kurz) zu. Erstmals ging es nicht mehr um die Ausweitung des nationalzentrierten Machtbereichs, sondern um die Absicherung des marktzentrierten Kapitalismus überhaupt gegenüber seinen immanenten, staatszentrierten Gegenspielern (Sowjetunion, VR China, nationale Befreiungsbewegungen). Die USA befanden sich somit in einer paradoxen Doppelrolle, denn zum einen konnten sie niemals ihre nationalstaatliche Form abstreifen, zum anderen jedoch mussten sie nun über diese partikulare nationalstaatliche Rolle hinausgehen, sie gar zu einem gewissen Grade negieren, um in einem viel allgemeineren Sinne die Funktionsfähigkeit des irrationalen Gesamtsystems überhaupt zu garantieren: eine Rolle, die von keinem „externen“ Akteur übernommen werden kann. Denn im Gegensatz zum souveränen Nationalstaat, der aufgrund der Konkurrenz zu anderen Nationalstaaten für eine relative Ordnung im alltäglichen „Krieg aller gegen alle“ zwischen seinen eigenen Rechtssubjekten (hier ansässige Unternehmen, StaatsbürgerInnen etc.) sowie für Sicherheit gegenüber externen Gefahren zu sorgen hat, kann es auf der obersten Ebene des Weltmarkts keine eigenständige, allgemeine Ordnungsmacht im Sinne eines Weltstaats geben: Hier herrscht einzig und allein das Recht des Stärkeren. Die Rolle des Weltpolizisten kann also nur an einen der Nationalstaaten selbst oder eben an ein Bündnis mehrerer Nationalstaaten fallen – und historisch war und ist dies eben die NATO unter Führung der USA.
Der hieraus resultierende innere Widerspruch im Doppelcharakter der USA machte sich schon bald bemerkbar:
„Zwar verwenden die USA bis heute für ihr globales Vorgehen als ‚Weltpolizist‘ gewohnheitsmäßig und geradezu unschuldig den Begriff des ‚nationalen Interesses‘ […]. Trotzdem waren der im Verlauf des Kalten Krieges erlittene Verlust jener am Ende des Zweiten Weltkriegs erreichten absoluten ökonomischen Übermacht, der Rückgang des nationalen Weltmarktanteils, das relative Zurückfallen in der industriellen Produktivität und schließlich die exorbitante Innen- und Außenverschuldung zu großen Teilen auf die kapitalistisch unproduktive Last des politisch-militärischen ‚Weltmachtkonsums‘ zurückzuführen.“[15]
Genau dieser Widerspruch zwischen nationalstaatlichem Partikularismus einerseits und weltpolizeilichem Universalismus andererseits ist es, welcher sich seit Ende des Kalten Krieges und insbesondere seit der Weltwirtschaftskrise 2008 ff. endgültig zuspitzt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten die USA nämlich einerseits zwar „gewonnen“, jedoch stellte sich dieser Sieg bald schon als Pyrrhussieg heraus. Eine Weltregion nach der anderen zerfällt, während den USA weiterhin die Aufgabe zukommt, als nunmehr monozentrischer „ideeller Gesamtimperialist“ die Rahmenbedingungen für eine stabile kapitalistische Weltordnung zu sichern: ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. In einem freilich unkritischen Sinne wurde dies nun zunehmend auch den US-amerikanischen Funktionseliten in Politik und Militär bewusst. Unter dem Banner des Isolationismus ziehen sich die USA bereits seit Jahren sukzessive von ihrer Rolle als Weltpolizist auf ihr Partikularinteresse zurück: Trumps „Make America great again“ ist nur der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung.
Hinsichtlich der Interventionen in Afghanistan & Co. bedeutet dies, dass die USA nicht mehr gewillt sind, als Nationalstaat, der sie sind und immer waren, weiterhin die Kosten für ihre Rolle als Weltpolizist zu bezahlen, sich auf ihre nationalstaatliche Rolle zurückziehen und die „Drecksarbeit“ an andere delegieren:
„In den meisten NATO-Staaten bestimmten längst nicht mehr, wie noch 2002, Themen wie Wiederaufbau und Demokratisierung die Diskussionen über Afghanistan, sondern wie man sich möglichst ohne allzu großen Gesichtsverlust von dort zurückziehen könnte. Am 20. November 2010 einigten sich die NATO-Staaten darauf, bis 2014 das Gros ihrer Truppen abzuziehen. Mit der Folgemission ‚Resolute Support’, die sich vor allem um die Ausbildung von Sicherheitskräften kümmert, fand eine Reduzierung der internationalen Truppenpräsenz auf 13000 bis 14000 Mann statt; das Kontingent der Bundeswehr in der neuen Mission ist auf bis zu 980 Mann begrenzt.“[16]
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die afghanische Regierung unter Ghani im selben Zeitraum mit einem umfangreichen neoliberalen Sparprogramm begann, wodurch nicht zuletzt die Anzahl der Truppen der afghanischen Nationalarmee radikal gekürzt werden sollte: eben jener Armee also, die als Stern der Hoffnung[17] für eine neue afghanische Eigenständigkeit firmierte.
„‚Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit‘, lautet der bekannteste Spruch der Taliban.“[18] In der Tat brauchten die Taliban ab diesem Zeitpunkt nur noch abzuwarten. Bei den Gesprächen in Doha wurde schnell klar, dass die USA über keinerlei Handlungsmacht verfügten, den Taliban irgendwelche Bedingungen für einen Rückzug diktieren zu können. Die offizielle afghanische Regierung war ohnehin schon gar nicht mehr Teil des Prozesses und deren Irrelevanz somit de facto eingestanden.
Somit schließt sich der Kreis. Der eingangs erwähnte Agnostizismus seitens des Westens ist die ideologisch notwendige Begleitmusik dieses Prozesses der kalkulierten Sterbehilfe. Dabei mag es sich bei der öffentlichen Relativierung des Taliban-Terrors durchaus um ein von Person zu Person jeweils variierendes Mischungsverhältnis aus gesellschaftlich induzierter Bewusstlosigkeit einerseits und bewusster, offener Lüge andererseits handeln. Heiko Maas hat dies zuletzt implizit eingestanden:
„Alles fromme Wünsche? Solche Zweifel wurden durchaus laut unter Diplomaten. Zweifel auch daran, ob der Westen im Moment überhaupt in der Position ist, Forderungen zu stellen. Zumal die Taliban immer wieder erklärt haben, dass sie ab sofort mit der Scharia regieren. Das wirft die Frage auf, wie sich das mit den universellen Menschenrechten vereinbaren lässt. Die Erwartungen sollten da aber nicht zu hoch gehängt werden, empfahl Bundesaußenminister Heiko Maas. Niemand mache sich Illusionen darüber, ‚dass das, was für uns wichtig ist, in den nächsten Tagen zu hundert Prozent erfüllt wird.‘ Realistischer sei es, Geduld zu haben. ‚Das muss man, glaube ich, auch mittel- und langfristig betrachten‘, sagte der SPD-Politiker. Zumal es auch aus Sicht der deutschen Außenpolitik im Moment kaum Alternativen zu Verhandlungen mit den Taliban gibt.“[19]
Armin Laschet ist es angesichts seiner Beschwörung, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, letztlich zu verdanken, dass er offen ausgesprochen hat, worum es allen geht. Die Beteuerung, man wolle mit den Taliban verhandeln, ohne diese jedoch anzuerkennen, ist dabei umso mehr das Eingeständnis, dass man es zwecks Aufrechterhaltung von internationalem Recht und Ordnung mit internationalem Recht nicht mehr so genau nehmen darf. Der Kapitalismus zerbricht an seinen eigenen Widersprüchen.
Vom ungelösten innerlinken Konflikt…
Die Weltordnungskriege ab den 1990er Jahren und insbesondere die Interventionen in Afghanistan und im Irak hatten bekanntlich in der deutschsprachigen Linken zu einer Auseinandersetzung geführt, wie sie in dieser Form nirgendwo anders möglich gewesen wäre. Auf der einen Seite standen die sogenannten AntiimperialistInnen, deren Position sich weitestgehend mit dem deckte, was in der weltweiten Linken von LinkssozialdemokratInnen und „Friedensbewegten“ über GlobalisierungskritikerInnen bis hin zu AnarchistInnen und Alt- oder Neo-LeninistInnen verschiedenster Couleur Grundkonsens war. Hintergrund dieses Konsenses war hierbei ein subjektivistisches Verständnis von Kapitalismus, wie es bis heute in der Linken vorherrschend ist. Letzter Urgrund allen kapitalistischen Übels ist in dieser von der alten Arbeiterbewegung – wenngleich nicht ungebrochen – übernommenen Diktion nicht das „automatische Subjekt“ (Marx) der selbstzweckhaften Wertverwertung (salopp gesprochen: der Selbstzweck, aus einem Euro zwei zu machen), sondern der nicht weiter begründete subjektive Wille der ausbeutenden Klasse, welche wahlweise mit der Bourgeoisie, „den Imperialisten“ oder gar gleich den finanzkapitalistischen „Spekulanten“ identifiziert wird – in letzterem Fall strukturell schon immer der nationalsozialistischen Unterscheidung von „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital nahestehend, nicht selten auch offen antisemitisch. Dass der gemeine Kapitalist von seinem „erbeuteten“ Profit insofern wenig hat, als er qua Konkurrenz mit anderen Kapitalisten dazu gezwungen ist, diesen Profit möglichst schnell wieder in sein Unternehmen zu reinvestieren – was freilich eher einem Hamsterrad als einer vermeintlich cleveren subjektiven Ausbeutungsstrategie gleichkommt – ist ein Gedanke, der für einen Großteil der Linken bis heute ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist.
Somit konnten auch die US-Interventionen nicht anders interpretiert werden denn als Resultat eines subjektiven Bereicherungswillens, vor allem hinsichtlich der zweifelsohne gigantischen Ölvorkommen im Nahen Osten: „Kein Blut für Öl“, so die Parole. Eine weitere, eher kulturalistische Interpretation versuchte, die Weltordnungskriege schlichtweg aus einer „Überheblichkeit“ des US-amerikanischen Sozialcharakters zu erklären: Die Weltpolizei-Rolle wurde hierbei platt moralisch als eine „Anmaßung“ seitens „der Amis“ verstanden, ohne auch nur ansatzweise zu hinterfragen, wie es überhaupt zu dieser Rolle kommen konnte. Dieser billige Antiamerikanismus konnte sich steigern bis hin zu Verschwörungstheorien, denen zufolge die Anschläge vom 11. September ein geplanter Akt („inside job“) der US-Regierung höchstselbst gewesen sei. Dabei kam es keineswegs überraschenderweise von Anfang an zu einer gruseligen Melange aus noch eher traditionellen Linken einerseits und offenen VerschwörungstheoretikerInnen sowie völkischen Rechten andererseits. Gemeinsamer Nenner war neben genannten Verschwörungstheorien und einer Neuauflage der antisemitischen Mär einer jüdischen bzw. zionistischen Weltverschwörung („USrael“) die Verteidigung der „souveränen Nationen“ oder „Völker“ des Nahen und Mittleren Ostens, was manche Linke gar dazu bewog, Geld für den „irakischen Widerstand“ zu sammeln.
Diese weitverbreitete Indifferenz gegenüber Diktatoren und Islamisten aller Art sowie die partielle Parteinahme für sie zeigte dabei einmal mehr, dass ein weiteres Grundparadigma der antiimperialistischen Linken endgültig ausgedient hatte, nämlich das der „nationalen Befreiung“ bzw. der „nationalen Souveränität“. Hatten die nationalen Befreiungsbewegungen Mitte des 20. Jahrhunderts noch tatsächlich für binnenkapitalistischen Fortschritt und Entwicklung gestanden und somit einen positiven Bezugspunkt für die westliche Linke, die sich ihrerseits schon immer als die Avantgarde eben jenes Fortschritts verstanden hatte, geboten, so glitt den AntiimperialistInnen ihr „revolutionäres Subjekt“ in den folgenden Jahrzehnten zusehends aus den Händen. Bekanntlich zeigte sich bei den meisten „befreiten Nationen“ sehr früh, dass die nun endlich errungene souveräne Staatswerdung wie jede Staatswerdung mit brutaler Gewalt auch nach innen einherging. Weitaus relevanter war jedoch die Tatsache, dass die nun postkolonialen Staaten mit allen anderen und somit insbesondere den hochentwickelten Industriestaaten am Weltmarkt konkurrieren mussten: ein hoffnungsloses Unterfangen, waren diese jenen doch um einige hundert Jahre kapitalistischer Produktivkraftentwicklung voraus. Daher folgte auf die Erringung staatlicher Souveränität nach nur wenigen Jahren der Bankrott. Dieser strukturell bedingten Unmöglichkeit, eine „tragende Ökonomie“ etablieren zu können, entsprach dabei die politische Entwicklung auch im engeren Sinne, als der Prozess der Staatswerdung und Verrechtlichung binnen kürzester Zeit in die klientelistische Verramschung der entstandenen politischen Institutionen unter den ehemaligen Revolutionären und ihren Günstlingen umschlug, was zu den bekannten, teils vermeintlich „sozialistischen“ Diktaturen in vielen Teilen der Dritten Welt führte.
Das Paradigma „nationaler Befreiung“ bzw. „Souveränität“ hatte sich also realhistorisch endgültig erschöpft, was jedoch keineswegs zu einer weitergehenden innerlinken Reflexion dieses Epochenbruchs führte. Somit blieben und bleiben bis heute nur zwei Optionen, die freilich nie in Reinform existieren: Entweder man folgte der Devise „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ und bauschte jede globalpolitische „Kraft“, die dem Westen auch nur irgendwie entgegenzustehen schien, als neues „revolutionäres Subjekt“ auf, selbst wenn dieses Subjekt auch äußerlich nichts mehr mit Sozialismus zu tun hatte. Als Paradebeispiel hierfür kann die Begeisterung großer Teile der antiimperialistischen Linken für die palästinensische Intifada oder das islamistische Terrorregime im Iran gelten, während die Taliban aufgrund ihrer unrühmlichen Rolle gegen Ende des Kalten Krieges auch bei AntiimperialistInnen schon immer eher schlecht im Kurs standen.
Die andere – meines Wissens im Falle Afghanistans am weitesten verbreitete – Option war der Rückzug auf eine hilflose Mischung aus Pazifismus und Entwicklungshilfe einerseits sowie dem verdrucksten Schweigen gegenüber genannten Diktaturen und Terrorbanden andererseits, als könne man zu diesen gar nichts sagen. Ironischerweise übernahm man vom Imperialismus die Mär von „Entwicklung“ und „Wiederaufbau“ – nur um gleichzeitig zu proklamieren, dass diese mit Waffengewalt eben nicht zu erreichen sei, weswegen die westlichen Mächte ihr Geld doch bitte nicht in militärische, sondern zivile Projekte zu investieren hätten. Dass selbst dann, wenn alle westlichen Gelder in zivile Projekte flössen, eine eigenständige ökonomische Entwicklung der Peripherieregionen weiterhin, wie oben dargelegt, ein Ding der Unmöglichkeit wäre und die Abhängigkeit von externen Finanzquellen umso mehr zementiert würde – dies wurde und wird nicht gesehen.
Diese antiimperialistische Interpretation hat sich in einigen Teilen der Linken bis heute gehalten. So publizierte bereits Anfang Juli die der Linkspartei nahestehende trotzkistische Plattform „marx21“ auf ihrer Homepage einen Artikel der linken Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz unter dem Titel „Afghanistan: Demokratie lässt sich nicht herbeibomben“[20]. Schon der Titel deutet an, in welche Richtung es geht: Eine Stabilisierung der Situation in Afghanistan sei durchaus möglich gewesen, so die Autorin, nur eben nicht mithilfe des Westens und seiner Bomben. Daher sei der Abzug des Westens durchaus zu begrüßen, ja vielmehr noch konsequenter durchzuführen:
„Mit dem Abzug der westlichen Truppen enden ihre Kampfhandlungen in Afghanistan nicht. Das US-Militär gab bekannt, dass bereits Kampf- und Aufklärungsoptionen außerhalb der Landesgrenzen gestartet werden. Die Konsequenz aus dem Afghanistandesaster muss sein, die ausländischen Truppen, Spezialkräfte und Geheimdienste dauerhaft zurückzuziehen.“[21]
Es ist zweifelsohne richtig, dass die Intervention eine einzige Katastrophe war, nur hat es angesichts der momentanen Zustände in Afghanistan etwas seltsam Ignorantes, den Abzug der westlichen Truppen als das vermeintlich „kleinere Übel“ zu verkaufen. Dies kann Buchholz freilich nur deshalb, weil für sie eine Entwicklung ohne äußere Einmischung noch möglich zu sein scheint:
„Im Jahr 1981, nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan, schrieb der US-amerikanische Sozialist und Aktivist Jonathan Neale: ‚Niemand kann ein anderes Volk befreien, weder durch Erziehung noch durch Staatsmacht noch durch Putsche und amtliche Dekrete.‘ Die Militäreinsätze schwächten den Widerstand aus der afghanischen Gesellschaft gegen die Herrschaft der Taliban, eine Entwicklung, die sich ähnlich in Irak und Libyen beobachten lässt. Gestärkt wurden die Taliban und andere rückschrittliche Kräfte im Land. Die Flüchtlingskatastrophe im Mittleren und Nahen Osten ist auch das Resultat westlicher Militäreinsätze, im Falle von Syrien auch von russischer Militärintervention. Das ist heute so richtig wie vor vierzig Jahren. Die Lehre aus der afghanischen Katastrophe ist dieselbe wie die aus der syrischen, libyschen und irakischen Katastrophe: Demokratie, gesellschaftlicher Fortschritt kann nicht mit Kriegen von außen aufgezwungen werden.“[22]
Der imperialen Einmischung wird also wieder einmal die alte antiimperialistische Hoffnung auf die Restitution nationaler Souveränität entgegengestellt. Wie es angesichts der oben dargelegten ökonomischen Situation Afghanistans zu einer solchen Souveränität noch einmal kommen soll, bleibt dabei wie immer das Geheimnis der AntiimperialistInnen selbst. Doch auch in politischer Hinsicht zeichnet sich ja bereits jetzt eine Situation ab, in der weder die Islamisten noch die Warlords in der Lage sind, das staatliche Gewaltmonopol an sich ziehen zu können, was wiederum eine weitere Mindestvoraussetzung für die Etablierung staatlicher Souveränität wäre. Zweifelsohne hat der Imperialismus in den letzten Jahrzehnten seinen Teil zur gesellschaftlichen Zerrüttung des Landes beigetragen. Dennoch haben bereits die innerafghanischen Verwerfungen der 1990er Jahre deutlich gemacht, dass die identitäre Zersplitterung nicht allein das Resultat massiver äußerer Intervention, sondern das Telos der zerfallenden Weltgesellschaft überhaupt und damit auch der weiteren Entwicklung Afghanistans ist. Selbst wenn der Westen, Russland, Pakistan, Indien, China, die Golfmonarchien sowie die zentralasiatischen Länder jegliche direkte oder indirekte wirtschaftliche und politische Einflussnahme in Afghanistan beenden würden – angesichts der Globalisierung an sich schon ein Ding der Unmöglichkeit –, so wäre damit die Gefahr einer weiteren Zuspitzung des Bürgerkrieges keineswegs abgewendet. Wahrscheinlich käme es zu weitaus brutaleren Verteilungskämpfen als noch in den 1990er Jahren, die Taliban würden weiterhin mit den Warlords und dem IS kämpfen, während in allen Gruppierungen erbitterte Fraktionskämpfe ausbrächen. Letztlich jedoch scheint dieses Szenario auch ohne eine „völlige“ Isolation das weitere Schicksal Afghanistans zu sein.
Darüber hinaus zeigt die von Buchholz zustimmend zitierte Parole „Niemand kann ein anderes Volk befreien“ auf ein Neues die ideologische Nähe von nationalen Befreiungsträumen zu ethnopluralistischen und völkischen Positionen. Demgegenüber gilt es klar festzuhalten: Nie und nimmer kann es einer globalen antikapitalistischen und feministischen Bewegung (die momentan weit und breit nicht in Sicht ist) um die Bewahrung angeblich autochthoner nationaler, ethnischer oder religiöser Zwangskollektive gehen. Allein aus Gründen internationaler bzw. transnationaler Solidarität mit all denjenigen, die unter Taliban, Warlords und Interventionstruppen zu leiden haben, sollte es für jede/n Kommunisten/in klar sein, dass solche Distinktionen nur Gegenstand der Kritik sein können. Das Problem an der westlichen Intervention ist nicht eine etwaige „Grenzverletzung“ gegenüber dem afghanischen „Volk“, sondern der gänzlich unemanzipatorische Hintergrund dieser „Grenzverletzung“.
Noch wilder wird es in einem anderen, ebenfalls auf der Homepage von „marx21“ publizierten Artikel mit dem Titel „Rückkehr der Taliban: Das Ende der Besatzung“[23]. Dabei handelt es sich um einen aus dem Englischen übersetzten Artikel von Nancy Lindisfarne sowie des bereits von Buchholz zitierten Jonathan Neale. Auch hier findet sich die Beteuerung, man habe in fremden Landen nichts zu suchen. So zitieren die AutorInnen den Vater eines getöteten britischen Soldaten:
„‚[…] Ich denke, das Problem war, dass wir gegen Menschen kämpften, die in diesem Land heimisch waren. Wir kämpften nicht gegen Terroristen, sondern gegen Menschen, die dort lebten und unsere Anwesenheit nicht mochten.‘“[24]
Es hat schon etwas von einer starken Verblendung zu glauben, die westlichen Truppen und PolitikerInnen hätten nicht tatsächlich die Absicht (und nur um subjektive Absichten geht es hier ja) gehabt, die Taliban und al-Qaida zu zerschlagen, sondern wissentlich einen Kampf gegen „die Menschen“ führen wollen. Doch auch in anderer Hinsicht wird die subjektivistische Verkürzung deutlich:
„Die Afghanen hatten auf eine Entwicklung gehofft, die sowohl den Reichen als auch den Armen zugute kommen würde. Es schien so offensichtlich und so einfach zu sein. Aber sie verstanden die amerikanische Außenpolitik nicht. Und sie verstanden nicht, wie sehr sich die reichen 1 Prozent in den Vereinigten Staaten der wachsenden Ungleichheit in ihrem eigenen Land verschrieben haben. Es floss amerikanisches Geld nach Afghanistan. Aber es ging an die Leute in der neuen Regierung unter Hamid Karsai. Es ging an die Leute, die mit der US-Administration und den Besatzungstruppen anderer Nationen zusammenarbeiten. Und es ging an die Kriegsherren und ihre Gefolgsleute, die tief in den internationalen Opium- und Heroinhandel verstrickt waren, der von der CIA und dem pakistanischen Militär gefördert wurde. Es ging an die Leute, die das Glück hatten, luxuriöse, gut verteidigte Häuser in Kabul zu besitzen, die sie an ausländische Mitarbeiter vermieten konnten. Es ging an die Männer und Frauen, die in den vom Ausland finanzierten NGOs arbeiteten.“[25]
Bereits für die inneramerikanischen Verhältnisse wird also von einer eindeutig bewussten Strategie der Förderung sozialer Ungleichheit ausgegangen und es überrascht keineswegs, dass hierfür die Formel von der Macht der „reichen 1 Prozent“ herhalten muss: seit Jahren das Bindeglied von GlobalisierungskritikerInnen und offenen VerschwörungstheoretikerInnen. Diese soziologistische Reduktion des alle Klassen und Schichten übergreifenden Systems der selbstzweckhaften Geldvermehrung auf ein auf subjektiven Ausbeutungswillen gegründetes Herrschaftsverhältnis wird sodann auch auf internationaler Ebene angewendet: Das Problem sei nicht, dass der Westen noch so viel Geld nach Afghanistan pumpen könnte, ohne damit auch nur irgendeine Entwicklung zu ermöglichen, sondern dass dieses Geld an die falschen Leute ging – eben an die „Herrschenden“ und nicht die afghanischen „99%“.
Es ist darüber hinaus auch nur die halbe Wahrheit, wenn behauptet wird, die CIA hätten den Drogenhandel „gefördert“. Ausgeblendet wird hier der mittlerweile seit Jahrzehnten brodelnde innere Widerspruch des westlichen Imperialismus, dass sich seine Stabilisierungsmaßnahmen immerzu in ihr Gegenteil verkehren: So sehr der Westen auf Drogenbarone zwecks Stabilisierung angewiesen ist, so wenig tragen der illegale Drogenhandel sowie immer mehr Drogenabhängige zu eben jener Stabilisierung bei. Was Ahmed Rashid in folgender Passage für die Situation in Pakistan in den 1980er Jahren schreibt, kann ebenso gut für die Situation in Afghanistan gelten:
„Die Drugs Enforcement Administration der USA (DEA) hatte in den 1980ern 17 vollbeschäftigte Beamte in Pakistan, die 40 größere Heroin-Syndikate ausmachten, darunter einige, an deren Spitze ranghöchste Regierungsbeamte standen. Nicht ein einziges Syndikat wurde in dem Jahrzehnt zerschlagen. Es gab ganz offensichtlich einen Interessenskonflikt zwischen der DEA und dem [sic] CIA, der jede peinliche Enthüllung über Drogenverbindungen zwischen ‚heroischen‘ Mudschaheddin und pakistanischen Beamten und Drogenhändlern und der eigenen Organisation meiden wollte. Mehrere DEA-Beamte baten um Versetzung und zumindest einer trat zurück, weil der CIA es ihnen nicht gestattete, ihre Pflicht zu erfüllen.“[26]
Wenn das keine raffinierte, von den „1%“ und ihren Marionetten im Weißen Haus und Pentagon ausgeklügelte Taktik ist, was dann?
Zu guter Letzt wird man bei Lindisfarne und Neale das Gefühl einer klammheimlichen Freude seitens der AutorInnen über die neusten Entwicklungen in Afghanistan nicht los. Wie bereits beschrieben, boten sich die Taliban aufgrund ihrer früheren Verquickung mit dem Westen immer schon eher schlecht als positive Projektionsfläche für „antiimperialistischen Widerstand“ an. Und tatsächlich stellen die beiden AutorInnen durchaus fest: „Aber es bleibt wahr, dass die Taliban zutiefst sexistisch sind. Die Frauenfeindlichkeit hat in Afghanistan einen Sieg errungen.“[27] Dies hält die AutorInnen jedoch nicht davon ab, wenige Zeilen weiter zu schreiben:
„Kabul, Kandahar und Mazar, die drei wichtigsten Städte, sind alle ohne jegliche Gewalt gefallen. Das liegt daran, dass die Taliban, wie sie immer wieder sagen, ein Land in Frieden wollen und nicht auf Rache aus sind. Es liegt aber auch daran, dass die Menschen, die die Taliban nicht unterstützen, ja die sie hassen, sich ebenfalls entschieden haben, nicht zu kämpfen. Die Taliban-Führer sind unter großem Druck, dass sie Frieden bringen müssen. Wenn sie ihr Versprechen einlösen wollen, ist es notwendig, dass die Taliban weiterhin für eine gerechte Justiz [!] sorgen. Ihre bisherige Bilanz ist vorteilhaft. Aber die Verlockungen der Macht und der Druck der Regierung haben schon viele soziale Bewegungen [!] in vielen Ländern vor ihnen korrumpiert.“[28]
Man sollte meinen, die Qualifizierung einer Bewegung als „zutiefst sexistisch“ würde es verbieten, diese in eine Reihe von „sozialen Bewegungen“ im positiven Sinne zu stellen. Dies würde jedoch implizieren, dass man sich endgültig von der Illusion trennen müsste, es könne irgendwo auf dieser Welt eine an sich schon emanzipatorische Kraft geben, die man als westliche Linke sodann nur noch gegen ihren imperialistischen Widersacher zu verteidigen hätte. Nichts scheint der antiimperialistischen Ideologie bis heute fremder als dieser Bruch mit der eigenen Tradition; selbst dann nicht, wenn trotz aller ideologischer Verrenkungen und Relativierungen kein „revolutionäres Subjekt“ weit und breit zu sehen ist.
Der „antiimperialistischen“ Position stand in der genannten innerlinken Auseinandersetzung von Anfang an der Interventionismus der sogenannten „Antideutschen“ entgegen: „Fanta statt Fatwa“, so die Parole. Hintergrund dieser Relativierung der westlichen Stabilitätsbomberei war eine anachronistische Zurechtstutzung der Weltlage sondergleichen. Hatte man in den 1990er Jahren im Zuge des Balkankrieges noch vor einem angeblichen neuen deutschen Großmachtstreben gewarnt, so wurde die Gefahr eines neuen Nationalsozialismus vor allem seit 2001 weitestgehend veräußerlicht: Der deutsche Sonderweg war plötzlich gar nicht mehr so ur-deutsch, denn passend zum Ansteigen des antimuslimischen Rassismus hatte man jenen Sonderweg je nach Grad der ideologischen Verwilderung sodann entweder im baathistischen Trümmerregime Saddam Husseins, im Islamismus, im Islam überhaupt oder gleich der gesamten kapitalistischen Peripherie ausfindig gemacht. Somit war man natürlich perfekt gerüstet, um dem Imperialismus Schützenhilfe von links zu leisten, erfreuten sich doch auch in den westlichen Medien die geschichtsrelativierenden „Hitler-Vergleiche“ mit Saddam oder bin Laden einer großen Beliebtheit. Damit einher ging eine äußerst zweischneidige „Solidarität“ mit dem Staat Israel. Dessen Legitimierung als – qua allseitiger Bedrohung immer schon prekärer – letzter Zufluchtsort für die weltweit von Antisemitismus verfolgten Jüdinnen und Juden wurde mit dessen zweifelsohne völlig unemanzipatorischer, jedoch notwendiger Existenzweise als kapitalistischer Nationalstaat in einer Welt kapitalistischer Nationalstaaten sowie dessen Einbindung in den westlichen „ideellen Gesamtimperialismus“ identifiziert, um sodann jegliche Kritik an imperialistischer Barbarei (und letztlich am Kapitalismus überhaupt) als per se antisemitisch denunzieren zu können: ein gefundenes Fressen nicht zuletzt für quengelige männliche Jugendantifas und „Mantelträger-Adorniten“ (Daniel Späth) auf der Suche nach Autorität und Identifikation in Zeiten postmodernen Allerleis.
Dennoch zeigte sich bei genauerem Hinsehen, dass die Antideutschen ihre orthodox-marxistische Vergangenheit trotz aller Anbiederung an den Westen nie wirklich hatten überwinden können. Paradigmatisch ist eine Aussage von Thomas von der Osten-Sacken in einem Vortrag über die Lage im Nahen Osten Anfang 2016:
„Ich sehe, dass es einer massiven äußeren Unterstützung und Intervention bedarf. Was ich meine, kann man in etwa nachlesen bei Marx’ Analysen des Kolonialismus in Indien […].“[29]
Worum geht es in diesen Analysen? Marx setzte sich 1853 in mehreren in der „New-York Daily Tribune“ abgedruckten Artikeln mit der britischen Kolonialherrschaft in Indien auseinander und nahm zu dieser eine Position ein, die sich nur vor dem Hintergrund des „Historischen Materialismus“ verstehen lässt. Laut dieser sich stark an Hegels teleologische Geschichtsphilosophie anlehnenden Theorie ist der Bruch mit der kapitalistischen Gesellschaft keineswegs dadurch gekennzeichnet, dass die Menschheit sich zum ersten Mal bewusst über ihre eigene Gesellschaftlichkeit verständigt. Vielmehr sei die Überwindung des Kapitalismus bereits objektiv als Keimform im Kapitalismus selbst angelegt: Der Hebel für diese teleologische Bewegung sei bekanntermaßen der Klassengegensatz zwischen ausbeutender Bourgeoisie und ausgebeutetem Proletariat. Die zunehmende Verelendung der Arbeiterklasse führe automatisch, also unbewusst zu einer Bewusstseinsbildung über die gesamtgesellschaftliche Bewusstlosigkeit und somit zum Kommunismus: ein logischer Widerspruch, der sich in der Arbeiterbewegung in der Folge als die andauernde Diskrepanz zwischen eigentlicher Prädestinierung des Proletariats zur Revolution, d.h. der Arbeiterklasse für sich, und der realen, gar nicht so revolutionswilligen Arbeiterklasse an sich darstellte und somit stets für Kopfzerbrechen sorgte.
Doch nicht nur die Arbeiterklasse hatte laut dieser Theorie eine objektive „historische Mission“: Das Bürgertum war es, welches eine Epoche zuvor überhaupt erst einmal den Weg ebnen musste für den darauffolgenden Endkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Somit war dann auch schon gesetzt, dass es keinen Kommunismus ohne vorherigen Kapitalismus geben könne. Und hier kommt sodann Indien ins Spiel: Damit der Kommunismus „objektiv dran“ sein kann, müssten der präkolonialen indischen Gesellschaft erst einmal kapitalistische Manieren beigebracht werden, um in der Folge die Befreiung vom Kapitalismus möglich zu machen, so die vermeintliche Logik. In Marxens Worten:
„Gewiß war schnödester Eigennutz die einzige Triebfeder Englands, als es eine soziale Revolution in Indien auslöste, und die Art, wie es seine Interessen durchsetzte, war stupid. Aber nicht das ist hier die Frage. Die Frage ist, ob die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien. Wenn nicht, so war England, welche Verbrechen es auch begangen haben mag, doch das unbewußte Werkzeug der Geschichte, indem es diese Revolution zuwege brachte.“[30]
Ein offensichtliches Paradox: Damit es in Indien endlich zu einer bewussten gesellschaftlichen Organisierung kommen könne, müsse erst einmal der Kolonialismus als eingestandenermaßen „unbewußtes Werkzeug“ alles plattwalzen. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass Marx hiermit lediglich der kolonialen Plünderung das Wort redete, wenngleich er die Brutalität der Gräueltaten durchaus benannte.
Man kann sich leicht ausrechnen, auf welche Weise solche Aussagen von Marx seit nunmehr zwanzig Jahren für die Interventionskriege mobilisiert werden: Sind die Interventionen in der antideutschen Wunderwelt einerseits Ausdruck einer erneuten Anti-Hitler-Koalition – nur eben ohne irgendeinen Hitler und ein nationalsozialistisches Deutschland weit und breit –, so soll der Westen im selben Atemzug 150 Jahre nach seiner unbewusst-proto-sozialistischen Kolonialmission diese noch einmal vollziehen, weil – ja, warum eigentlich? Einerseits beruft man sich auf Marx und die quasi-emanzipatorischen „Errungenschaften“ des Kolonialismus in der Peripherie, andererseits beklagt man ständig, der Westen sei nie wirklich dort angekommen: ein auch immanent sehr wackliges Gedankengerüst.
Doch auch empirisch zeigt sich nach zwanzig Jahren Intervention, dass der Westen ebenso wenig wie zuvor die Arbeiterbewegung seine „historische Mission“ erfüllen will. Dementsprechend beleidigt ist man denn auch: Schon seit Jahren fühlt man sich vom guten alten Westen verraten, und jetzt auch das noch! Nicht zu viel Intervention habe es gegeben, sondern zu wenig:
„Der Westen hat sich in Afghanistan nicht ‚hoffnungslos überhoben‘, wie es nun häufig heißt, sondern die Taliban vollständig unterschätzt. Deren Kader sind keine ‚Steinzeit-Islamisten‘ oder ‚Motorradbanden‘, wie es oftmals verharmlosend heißt, sondern moderne Weltanschauungskrieger, die geduldig und taktisch flexibel auf ihr strategisches Ziel hinarbeiten […]“[31],
so Matthias Küntzel in der JungleWorld. Dass diese „Geduld“ letztlich weniger auf strategischer Schläue beruhte, die der Westen unterschätzt habe, sondern vielmehr durch die objektive Perspektivlosigkeit des Westens befördert wurde, bleibt notwendigerweise ausgeblendet, wenn man ein klassisches Kriegsszenario wie im Zweiten Weltkrieg zwischen zwei mehr oder weniger ebenbürtigen Kontrahenten voraussetzt. Daher auch die Zurückweisung der Behauptung, bei den Taliban handele es sich um ein gesellschaftliches Zerfallsprodukt („Motorradbanden“). Beschworen wird wie eh und je ein „globale[r] Krieg radikaler Islamisten gegen die Zentren der Aufklärung“[32], als seien erstere nicht im Gegenteil die Gespenster, die man rief – im Fall der Taliban ja sogar pro-aktiv. Nicht fehlen darf natürlich auch die notwendige Gruselstimmung:
„So, wie die Taliban erst ihre Macht in den ländlichen Gebieten sicherten, um anschließend die Provinzhauptstädte und Kabul zu stürmen, werden es die Islamisten wohl nicht bei Ländern des globalen Südens belassen, sondern früher oder später erneut auch westliche Metropolen angreifen.“[33]
Es ist derselbe kalte Schauder, der den westlichen Durchschnittsspießer überkommt, wenn er merkt, dass die Festung Europa vielleicht doch durchlässiger sein könnte, als er hofft: Der gesellschaftliche Zerfall kann nur das Werk unzivilisierter Barbaren sein.
Etwas kleinlauter zeigt sich da schon Udo Wolter in einem Kommentar mit dem denkwürdigen Titel „Gewohnheit schlägt Erfahrung“, in dem er sich vorrangig an den AntiimperialistInnen (darunter auch Lindisfarne und Neale) abarbeitet. Diesen hält er entgegen:
„Dennoch ist nicht abzustreiten, dass sich trotz des Misserfolgs des auch von seinen Grundvoraussetzungen her kritisch zu reflektierenden [!] westlichen nation building in Afghanistan Ansätze einer modernen Zivilgesellschaft entwickeln konnten. Zumindest in den Städten ist eine neue Generation vor allem junger Frauen aufgewachsen, die Zugang zu Bildung hatte und individuelle Freiheits- und Menschenrechte einfordert und sich einer rigiden Sharia-Herrschaft nicht fügen möchte. Die durch die erneute Machtübertragung an die Taliban nun in ihrer Existenz bedrohte Kultur- und Medienszene, die Menschenrechtsgruppen und NGOs mit ihren zahlreichen, mutig allen Todesdrohungen trotzenden Frauen und die an allen gesellschaftlichen Fronten kämpfenden Frauenrechtlerinnen sind großteils aus dieser Generation hervorgegangen. Es ist bestenfalls naiv, zu glauben, dies wäre ohne die militärische Entmachtung der Taliban möglich gewesen.“[34]
Es hat schon etwas außerordentlich Dreistes, nach zwanzig Jahren Bombenterror und Warlord-Kumpanei nicht mehr parat zu haben als die sanft-seichte Forderung, das ganze Unheil „auch von seinen Grundvoraussetzungen her kritisch zu reflektieren[ ]“. Und ebenso sehr, wie es in der Tat naiv ist zu glauben, die – wie Wolter selbst zugibt – vor allem auf die wenigen Städte konzentrierte „Kultur- und Medienszene“ sowie die vielen NGOs[35] hätte es ohne Intervention geben können, ist es schlicht verlogen zu suggerieren, diese Szene hätte der Übermacht des Taliban- und Warlord-Terrors irgendetwas Substantielles und Langfristiges entgegenzusetzen gehabt. Man hat sich ähnlich wie im Westen selbst einfach daran gewöhnt, dass man es auch praktisch nicht zu mehr bringt als zu einer urbanen „Szene“ oder Subkultur, die dem gesamtgesellschaftlichen Zerfall ebenso begriffslos wie handlungsunfähig gegenübersteht und von diesem letztlich mit Ansage verschluckt wird. Um hier absehbaren, sehr wohl gewollten „Missverständnissen“ vorzubeugen: Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass ein Großteil der AktivistInnen, MenschenrechtlerInnen, ÄrztInnen, AnwältInnen etc. in Krisenregionen häufig ein Maß an persönlicher Integrität und Mut aufweist, demgegenüber die westliche Mittelschichtslinke mit ihrem infantilen, aktionistischen Szenezirkus mehr als arm dasteht – dies kann nicht genügend unterstrichen werden. Umso dramatischer ist es, dass der emanzipatorische Horizont jener Leute ebenso wie der ihrer westlichen UnterstützerInnen – und um Letztere geht es hier in erster Linie – nicht über eine Affirmation von „Demokratie“, „humanitärem Minimalkonsens“ etc. hinausgekommen ist. Diese ganze prowestliche Schwätzerei rächt sich nun auch praktisch, wenngleich freilich nicht an den westlichen SchwätzerInnen selbst, sondern an den AfghanInnen. Insofern fällt der Vorwurf „Gewohnheit schlägt Erfahrung“ geradewegs auf Wolter zurück.
Doch niemand anderes als der bereits zitierte Thomas von der Osten-Sacken ist es, der den Vogel abschießt: Ein „Offener Brief an Heiko Maas“[36] (wohlbemerkt nicht sein erster) soll es richten. Auch hier muss wieder die gesamte Palette an anachronistischen Verrenkungen herhalten: Aufhänger ist die tatsächlich dummdreiste Äußerung des deutschen Außenministers, Demokratie ließe sich nicht „exportieren“, was von der Osten-Sacken natürlich als Steilvorlage nutzt, um Taliban und Nazi-Herrschaft wenn schon nicht gleichzusetzen, so doch einen solchen Vergleich durchaus zu implizieren, denn bekanntlich sei es den Alliierten sehr wohl gelungen, in Deutschland die Demokratie einzuführen. Es ist das alte Lied. Dass hier wieder Äpfel mit Birnen verglichen werden, sollte vor allem in zweierlei Hinsicht offensichtlich sein: Zum einen folgten auf den Zweiten Weltkrieg Jahre des ökonomischen Aufschwungs, während die heutigen Weltordnungskriege in Zeiten globalgesellschaftlichen Zerfalls stattfinden. Und zweitens war Deutschland trotz aller Nazi-Barbarei immer noch Teil der führenden Industriestaaten – ganz zu schweigen von seiner Lage in Zentraleuropa –, weswegen es sowohl politisch als auch ökonomisch unsinnig gewesen wäre, Deutschland aus der westlichen „internationalen Gemeinschaft“ zu exkludieren; nicht zuletzt natürlich auch in militärischer Hinsicht angesichts des sich bereits abzeichnenden Kalten Krieges.
Noch abstruser wird es schließlich bei der Frage nach der „historischen Mission“ des Westens:
„Und ganz zum Schluss, die ‚Islamische Republik Afghanistan‘ war – der Name sagt es schon – nie als westliches Exportmodell gedacht [!], sondern damals lud ihr [sic] Vorgänger Joseph Fischer allerlei dubiose Warlords auf den Petersberg, und es wurde ausgehandelt, sie alle – solange sie nur keine Taliban waren – möglichst in einen Prozess einzubinden, der zu einem neuen afghanischen Staat führen sollte. In diesem Staat sollten Religion, Stammeszugehörigkeit und ähnliches eine wichtige Rolle spielen, darauf insistierte gerade die Bundesrepublik. Insofern vielleicht stimmt es, dass es mit dem Export nicht geklappt hat.“[37]
Kunststück: Es war gar nicht der Westen, der da „exportiert“ wurde! Man sollte meinen, es gäbe genug empirisches Beweismaterial dafür, dass die Kumpanei mit allerlei Finsterlingen weltweit seit eh und je das Geschäft des Westens gewesen – kurz: dass das der Westen gewesen wäre, aber nichts da. Pinochet? „[N]ie als westliches Exportmodell gedacht“, denn der war ja Diktator, und was hat der Westen mit Diktatoren zu tun! Unterstützung von Islamisten gegen die Sowjetunion? „[N]ie als westliches Exportmodell gedacht“, denn was hat der gute Westen denn mit puritanischen Frauenfeinden zu tun! Libysche Milizen, die im Auftrag der EU Flüchtlinge misshandeln? Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden.
Abschließend lässt sich somit resümieren: Wenn Buchholz einerseits proklamiert, Demokratie könne nicht herbeigebombt werden, und wenn von der Osten-Sacken andererseits behauptet, die westliche Demokratie sei letztlich gar nicht sie selbst, wenn sie mit Warlords kooperiere, so ist dem gegenüber festzuhalten, dass Bomben und Warlords ganz im Gegenteil das Einzige sind, was der zweifelsohne demokratische Westen für die Überflüssigen dieser Erde noch übrig hat.
…zur offenen Affirmation der eigenen Begriffslosigkeit
Wie oben darlegt, waren die „antideutsche“ wie auch die „antiimperialistische“ Position von Anfang an ein typischer Ausdruck postmoderner Virtualisierung und Simulation gewesen: Anstatt die eigenen, anachronistisch gewordenen Paradigmen vergangener Epochen zu überwinden, wurden sie weiterhin auf die qualitativ neue Situation nach 9/11 projiziert. Somit war von Beginn an klar, dass sich die Positionen beider Lager an der realen historischen Entwicklung blamieren würden: Sowohl der bereits von Obama angekündigte sukzessive Rückzug der USA, die relative Zurückhaltung im Zuge des „Arabischen Frühlings“ als auch das Eingreifen Russlands im syrischen Bürgerkrieg wenige Jahre später ließen sich nicht in die gängigen Interpretationsraster zwängen. Zugleich wurde immer deutlicher, dass sich weder der Westen noch irgendwelche „antiimperialistischen“ Kräfte mehr als „revolutionäres Subjekt“ anboten, mit dem man sich von linker Seite hätte identifizieren können. Anstatt dies jedoch endlich zum Anlass zu nehmen, sich obsolet gewordener Erklärungsmuster zu entledigen und eine Aufarbeitung des eigenen theoretischen wie auch praktischen Scheiterns anzustoßen, wurde es nach Jahren teils sogar körperlicher Auseinandersetzung hinsichtlich der westlichen Interventionskriege sowie jenes innerlinken Konflikts, der eine ganze Generation von deutschsprachigen Linksautonomen, Parteilinken, TheoretikerInnen und BewegungssoldatInnen geprägt hatte, verhältnismäßig still, während die nie verworfene Suche nach neuen „revolutionären Subjekten“ notwendigerweise zunehmend wahllos wurde:
„Mit dem Zusammenbruch der sowjetischen Illusion ist jedes einfache geopolitische Interpretationsraster verloren gegangen. Keine Ideologie erlaubt auch nur ansatzweise, Freund von Feind zu unterscheiden – wie verzweifelt der Versuch von manchen auch ist, erneut ein beruhigendes Deutungsraster herzustellen, in dem Iran, China, Venezuela oder Baschar al-Assad die Helden im Kampf gegen den Imperialismus abgeben. Wer könnte schon von hier aus die genaue Natur des libyschen Aufstands benennen? Wer kann in der Besatzung des Taksim unterscheiden, was auf den alten Kemalismus und was auf das Streben nach einer ganz neuen Welt zurückgeht? Und Maidan? Wie steht es mit Maidan? Man muss es sich anschauen gehen. Man muss die Begegnung suchen. Und in der Komplexität der Bewegungen die gemeinsamen Freunde, die möglichen Bündnisse, die nötigen Konflikte erkennen. Einer Logik der Strategie und nicht einer der Dialektik folgen.“[38]
Was sich hier als eurozentrismuskritische Bescheidenheit tarnt („Wer könnte schon von hier aus […]“), ist nichts als das offene Eingeständnis, über keinerlei Kriterien zur Bewertung globaler Konflikte mehr zu verfügen: Die eigene begriffslose Not wird zur offen theoriefeindlichen Tugend erklärt, „Strategie“ und „Begegnung“ ersetzen endgültig kritische Analyse und Distanz. Diese Absage an theoretische Reflexion sowie die abstrakte Affirmation von „Bewegungen“ überhaupt waren freilich kein gänzlich neues Phänomen, sondern standen in einer Tradition, deren Geschichte bereits einige Jahrzehnte zurückreichte und hier in aller Kürze zu rekapitulieren ist.
Bekanntlich war es die Wendung des eher traditionsmarxistisch ausgerichteten italienischen Operaismus („Arbeiterismus“) hin zum poststrukturalistisch geprägten Postoperaismus ab den 1970er Jahren, in deren Zuge der orthodoxe Klassenkampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie zwar einerseits ad acta gelegt wurde; nicht jedoch, um zu einer neuen radikalen Kritik des beide Klassen übergreifenden Systems der „Verwertung des Werts“ (Marx) zu gelangen, sondern um den „Kampf“ an sich nun zur ontologisch-existenzialistischen Grundbestimmung menschlichen Daseins zu mystifizieren. Aufbauend u.a. auf Foucaults Machtbegriff konnte und kann nunmehr jegliche gesellschaftliche Auseinandersetzung – notwendige Konsequenz des kapitalistischen „Krieges aller gegen alle“und somit keinesfalls per se emanzipatorisch – zum revolutionären Kampf und jede Konfliktpartei zum neuen „revolutionären Subjekt“ deklariert werden.[39]
Sinnbildlich hierfür ist Antonio Negris und Michael Hardts Einschätzung der massenhaften Fluchtbewegungen weltweit in ihrem Klassiker „Empire“ aus dem Jahr 2000. Darin gestehen die Autoren einerseits zwar zu, dass Flucht vor allem „die Desertion aus den elenden kulturellen und materiellen Verhältnissen imperialer Reproduktion“ bedeute, welche „zumeist in eine neue entwurzelte Existenz in Armut und Elend“[40] führe – eine nicht unpassende Beschreibung der globalen Elendsmigration. Die postoperaistische Apotheose des „Kampfes“ schlechthin, gepaart mit dem elendigen postmodernen Drang, immerzu zwanghaft „das Positive sehen“ zu wollen[41], führt bei den Autoren jedoch gleichzeitig zu einer völlig konträren Einschätzung, der zufolge es sich bei der erzwungenen Flucht um ein angeblich subjektives „Verlangen nach Bewegungsfreiheit“[42] handele:
„Als die wahren Helden der Befreiung der Dritten Welt [!] dürften heute die Emigranten und die Bevölkerungsströme gelten, die alte und neue Grenzen zerstört haben.“[43]
Ein wahrlich starkes Stück. Es bedarf keiner eingehenden Sozialforschung um festzustellen, dass wohl kaum einer der Millionen weltweiten Flüchtlinge heutzutage allen Ernstes von sich behaupten würde, seine Flucht sei ein Beitrag zur „Befreiung der Dritten Welt“. Wer darüber hinaus in den letzten Jahren Kontakt z.B. zu syrischen Flüchtlingen gehabt haben sollte, der/die dürfte wissen, dass die meisten dieser Menschen im ersten Flieger zurück nach Damaskus säßen, gäbe es in näherer Zukunft auch nur irgendeine Aussicht auf ein Syrien ohne Assad und IS: so viel zum „Verlangen nach Bewegungsfreiheit“.
Die erzwungene Flucht, also der bewusstlos geführteÜberlebenskampf von Millionen von Menschen angesichts barbarisierender Verhältnisse ist für den Postoperaismus nicht zu trennen von einer bewussten antikapitalistischen Praxis („Befreiung der Dritten Welt“). Oder um es in den gängigen Floskeln auszudrücken: Alles ist halt irgendwie schon immer Empire: „Die Krise heißt Kapitalismus!“ Aber andererseits ist alles auch irgendwie schon immer Multitude: „Wir sind die Krise!“, was sich somit auf die These herunterkürzen ließe: „Wir sind der Kapitalismus!“ Was bei Marx noch kritisch gemeint war als die Einsicht, dass es niemand anderes als die Menschen selbst sind, die ihre Gesellschaft hervorbringen, jedoch bisher unbewusst und daher nicht aus freien Stücken, ist für den Postoperaismus affirmatives Programm: Dass „wir“ tatsächlich „der Kapitalismus sind“, soll nicht das Problem, sondern geradezu die Lösung sein. Ideologie und Kritik sowie Immanenz und Transzendenz fallen ununterscheidbar zusammen.
Eben diese postoperaistische „Theorie“-Tradition war es, welche es ermöglichte, die globalen Zerfallsprozesse inklusive der westlichen Weltordnungskriege nach der endgültigen Blamage „antiimperialistischer“ und (im deutschsprachigen Raum) „antideutscher“ Deutungsmuster kurzerhand unter die nichtssagende Phrase einer „Komplexität von Bewegungen“[44] zu subsumieren, in der alles vom subjektiven Willen der „Multitude“ – oder eben des „Empires“, wer weiß das schon – abhinge und keinerlei negativ-objektive historische Tendenz mehr auszumachen sei. Dass sich dieser rigorose Antideterminismus genauso wenig wie der „antideutsche“ Interventionismus oder die „antiimperialistischen“ Souveränitätsphantasien von realen historischen Ereignissen beeindrucken lässt, zeigt geradezu mustergültig ein auf der Homepage von „medico international“ veröffentlichter Kommentar von Thomas Rudhof-Seibert zur erneuten Talibanherrschaft in Afghanistan. Hatte Udo Wolter in seinem Kommentar in der JungleWorld noch völlig zurecht darauf bestanden, dass die Kultur- und NGO-Szene ohne die westliche Intervention so nicht möglich gewesen wäre und erstere vielmehr aus letzterer erwachsen ist, so dreht Rudhof-Seibert den Spieß einfach um, indem er jene Szene gegen die Intervention in Stellung zu bringen versucht, um sich schließlich seine „Bewegung“ entgegen aller realen Zusammenhänge – und nunmehr frei vom westlichen Makel – zu retten: ein klassischer postoperaistischer Taschenspielertrick. Nach mehreren Absätzen, die im Stil einer Live-Berichterstattung über die jüngsten Entwicklungen in Kabul berichten (allein schon der Titel des Textes „Afghanistan, jetzt.“ erinnert an die pathetisch-sensationalistische „Wenn nicht jetzt, wann dann“-Rhetorik, wie man sie seit Jahren insbesondere von der Interventionistischen Linken kennt), schließt Rudhof-Seibert wie folgt:
„Wohlfeil ist das Reden vom ‚Scheitern‘, weil es ab- und verdrängt, dass in den 20 Jahren der Besatzung wiederum tausende, zehntausende Menschen die unhaltbaren Versprechen der Besatzungsmächte zu ihrer eigenen Sache gemacht, in ihre eigenen Hände genommen haben. Menschen, die ihr ganzes Leben auf ihre ethische und politische Entscheidung gebaut haben, das ihnen Versprochene ernst zu nehmen: Demokratie, Menschenrecht, Gleichheit der Geschlechter. […] Auch wenn der Kollaps sie hinweggerissen und in die Flucht, vor den Flughafen getrieben hat, haben sie dem wohlfeil einbekannten ‚Scheitern‘ eine Grenze, ihre Grenze gesetzt [!]. Die Grenze der wirklichen Bewegung [!] der afghanischen Demokratie.“[45]
Die objektive Tendenz des Scheiterns binnenkapitalistischer Entwicklung („Demokratie, Menschenrecht, Gleichheit der Geschlechter“) in Afghanistan wird also selbst im Moment ihrer drastischen Zuspitzung kontrafaktisch für ungültig erklärt, da einige „tausende, zehntausende“ AfghanInnen diesem Scheitern schließlich einst eine „ethische und politische Entscheidung“ entgegengesetzt hätten – der antideterministische Willens- und Handlungsfetischismus wird an sich selbst irre. Was bleibt, ist die existenzialistische Totenrede auf all die Menschen, die Rudhof-Seibert hier hochleben zu lassen meint. Die postoperaistische „Kampf“- und „Bewegungs“-Emphase scheint offenbar selbst dann nicht Halt zu machen, wenn die von Rudhof-Seibert proklamierte „Grenzsetzung“ gegenüber dem Zerfall Afghanistans mit der Zerstörung eben jener „Grenze“ zusammenfällt, die „wirkliche Bewegung“ vollends unwirklich wird und an der Wand steht bzw. am Flughafen in die Luft gejagt wird.
Mit der Identifikation von Flüchtlingen als neuem „revolutionären Subjekt“ hatte der Postoperaismus die Grundlage für weitere, nicht minder theoriefeindliche und subjektivistische Tendenzen gelegt. Vor allem in antirassistischen Kontexten haben Theorien wie „Critical Whiteness“ sowie neoliberale „Empowerment“-Strategien insbesondere seit den Flüchtlingsstreiks ab 2012 verstärkt dazu geführt, dass nunmehr jede politische Aussage von nicht-weißen AktivistInnen (oder auch gänzlich unpolitischen Flüchtlingen, MigrantInnen etc.) allein qua „Sprechposition“ – also unabhängig vom Inhalt der Aussage – als wahr und damit als einzig möglicher Maßstab für vermeintlich kritische Reflexion und Praxis gilt, während Debatten über objektive Gründe für den weltweiten Zerfall und die damit einhergehenden Fluchtursachen meist äußerst randständigen Charakter haben. Eine letztlich nur konsequente Entwicklung: Ist erst einmal jeglicher objektiver Wahrheitsanspruch zugunsten des „revolutionären“ Willens einer diffusen, konturlosen „Multitude“ getilgt, so ist es nur folgerichtig, dass allerlei „subversive Subjektivitäten“ diese „Multitude“-Position (sei es implizit oder explizit) sowie die damit einhergehende „Definitionsmacht“ nun identitär für sich reklamieren – eine Position, die ihnen niemand jemals streitig machen kann, da es hierfür kein objektives Kriterium mehr gibt.
Was dabei als ernstgemeinte kritische Reflexion der kolonialen Praxis, dem außereuropäischen „Rest der Welt“ die eigene Gesellschaftsform aufzudrücken, daherkommt (und als solche freilich unerlässlich für kritische Gesellschaftstheorie wäre), entpuppt sich – darin der Pseudo-Eurozentrismuskritik des oben zitierten „Unsichtbaren Komitees“ nicht unähnlich – in einem ganz und gar nicht antirassistischen Sinne als die dankend angenommene Gelegenheit für weiße Mittelschichts-AktivistInnen, sich aus der Affäre zu ziehen und letzten Endes ebenso agnostisch und ignorant hinsichtlich der globalen Zerfallsprozesse zu werden wie der Rest der Gesellschaft. Es ist eben einfach bequemer und dazu noch äußerst trendbewusst, ab und zu irgendwelche Videos z.B. von Black-Lives-Matter-AktivistInnen, die sich ihrerseits meist auf subjektive „Erfahrungsberichte“ beschränken, zu teilen, als sich konsequent vom sozialmedialen Strudel zurückziehen und sich eingehend mit der Geschichte des Kolonialismus, der imperialistischen Kriege oder sonstigen Themen zu beschäftigen: Danke, so ernst meinten wir es dann doch nicht. Auch die längst nicht mehr nur auf linke Zusammenhänge beschränkte „Privilegienkritik“ erinnert dabei weitaus mehr an die selbstgeißelnde, postmodern-narzisstische „Arbeit an sich selbst“ als an ein zweifelsohne angemessenes Bewusstsein für die Tatsache, dass man es trotz aller Prekarisierung auf den wenigen Inseln kapitalistischer Rest-Normalität immer noch besser hat als der Rest der Welt, der endgültig in Krieg und Elend versinkt.
Der fehlende emanzipatorische Gehalt dieses bodenlosen Subjektivismus zeigt sich spätestens auch daran, dass er ebenso gut gegen die Opfer von rassistischer Gewalt oder kapitalistischer Verwüstung gemünzt werden kann:
„Aber in der westlichen Wahrnehmung erscheinen Afghanen in der Regel nur als Opfer: […] Als Akteure tauchen sie so gut wie gar nicht auf […]. Dieser Blick auf Afghanistan ist ein klassisches Produkt westlichen Paternalismus. […] Nun, da alles, was in den vergangenen zwanzig Jahren aufgebaut wurde, zusammenbricht, sollte niemand den Vorwurf erheben: Die Afghanen sind allein schuld. Aber es lag und liegt nun einmal an den Afghanen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Selbst eine Weltmacht wie die USA kann ein Land nicht verteidigen, das sich selbst nicht verteidigen will. Auch der gesamte Westen kann einer Gesellschaft eine Freiheit nicht aufzwingen, die sie selbst nicht haben will.“[46]
Da ist alles dabei: Paternalismus-“Kritik“, Anrufen der „agency“ (alias neoliberale Selbst-verantwortungsideologie) und nicht zuletzt eine ordentliche Prise Kulturrelativismus wie bei Heiko Maas einerseits oder den zitierten „AntiimperialistInnen“ andererseits. Es ist offensichtlich, dass die postmoderne Empowerment-Linke solchen Dreistigkeiten westlicher ApologetInnen des Isolationismus aber auch rein gar nichts entgegenzusetzen hat.
Bei aller Kritik an identitärer Verwilderung muss hinsichtlich der oben genannten Flüchtlingsstreiks dennoch festgehalten werden, dass es sich bei diesen ohne Zweifel um den organisierten Versuch handelte, in aller Öffentlichkeit auf den Zusammenhang von Flucht und imperialistischer Barbarei hinzuweisen und auch ganz praktisch für Verbesserungen zu sorgen. Man erinnere sich nur an die erbosten Verlautbarungen deutscher PolitikerInnen darüber, dass die von ihnen zur Vegetation verdammten Verwaltungsobjekte plötzlich Rechte einforderten und sich dabei ganz und gar nicht den deutschen Gepflogenheiten beugten, denen zufolge man sich bekanntlich erst ein Ticket zu kaufen habe, um sodann den Bahnhof stürmen zu dürfen.
Davon ist seit der sogenannten „Willkommenskultur“ nicht mehr viel zu sehen. Auch wenn einige Bewegungslinke während der „Flüchtlingskrise“ 2015 noch den zynischen Versuch unternahmen, die völlig verzweifelten Fluchtbewegungen als „March of hope“ zu deklarieren, so war die Differenz zu den noch bewusst organisierten Flüchtlingsstreiks wenige Jahre zuvor allzu offensichtlich. Angesichts des unübersehbaren Elends an den Grenzen und in deutschen Flüchtlingsheimen einerseits sowie der äußerst erfolgreichen rechten Mobilisierung durch PEGIDA andererseits klang die linke „Bewegungs“-Rhetorik daher zunehmend hilflos. Ein hieraus resultierender Wunsch nach einem festen „Boden unter den Füßen“ mag einer der Gründe dafür sein, wieso seit einigen Jahren Organisationen wie die „Seebrücke“ in Erscheinung getreten sind, die inhaltlich wieder zu altbekannten, bürgerlich-humanitären Forderungen wie der nach „Menschenrechten“, „gerechter Migrationspolitik“ oder der Stärkung der „Zivilgesellschaft“ zurückgekehrt sind: Forderungen, die man seit Jahrzehnten von bürgerlichen Akteuren wie Amnesty International, Kirchenverbänden oder der UNO kennt und über die letztlich auch „Antideutsche“, „AntiimperialistInnen“ und Bewegungslinke nie hinausgekommen waren – nur dass diese Forderungen im Gegensatz zu früher eben allein schon aufgrund der sich zuspitzenden Weltkrise scheinbar radikaler wirken, als sie tatsächlich sind[47], und damit auch für eine orientierungslose und auf Verbalradikalität fixierte Linke eine gewisse Attraktivität besitzen. Daher sei hier zum Abschluss auch auf diesen Holzweg noch einmal eingangen.
Bei den Menschenrechten handelt es sich, wie Marx es bereits in „Zur Judenfrage“ schrieb und wie es seitdem von linker Seite konsequent ignoriert wird, um „die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und von Gemeinwesen getrennten Menschen.“[48] Damit ist auch schon gesagt, dass es für die Gewährleistung dieser Rechte – die immer auch schon die Drohung implizieren, ein solcher Mensch werden zu müssen und als solcher zu funktionieren – eben eine intakte bürgerliche Gesellschaft braucht. Dies ist jedoch in vielen Regionen der Peripherie nicht mehr der Fall: Die Menschen werden als „Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft“ nicht mehr gebraucht und verlieren damit den Status des Menschseins im rechtlichen Sinne. Dass sie andererseits dennoch „Menschen“ bleiben, ist dabei von keiner objektiv-gesellschaftlichen Relevanz mehr. Aus demselben Grund bleibt auch die ständig wiedergekäute Phrase einer „gerechten Migrationspolitik“ im vermeintlich kritischen Sinne ein Phantasma: Die Festung Europa braucht all die zu ihr strömenden Menschen schlicht und ergreifend nicht, sie kann ja selbst mit großen Teilen ihrer einheimischen Bevölkerung immer weniger anfangen, wie die weitverbreitete Massenarbeitslosigkeit insbesondere in süd- und osteuropäischen Ländern zeigt. Abschottung, Abschiebung und die ermüdende Drangsalierung der wenigen, die es über die Grenzen schaffen, sind die einzigen migrationspolitischen Maßnahmen, welche die westlichen Staaten den Opfern ihrer ureigenen westlichen Gesellschaftsform entgegenzusetzen haben – „gerechter“ wird es nicht.
Auch die von NGOs ständig wiederholte Anrufung der „Zivilgesellschaft“ ist in gleich mehrerer Hinsicht hilflos. Zum einen ist allein schon rein sprachlich ersichtlich, dass der Begriff „Zivilgesellschaft“ in Regionen, wo eine bürgerliche (lat.: civilis) Gesellschaft nur in völliger Zerfallsform besteht, kaum noch Geltung haben kann. Zum anderen entspricht es ja nur der alltäglichen Erfahrung auch im Westen, dass die überwiegende Mehrheit der BürgerInnen tatsächlich jene von Marx beschriebenen „egoistischen Menschen“ sind, die sich vor Verzweiflung eher gegenseitig umbringen würden, als an ihrer eigenen Vergesellschaftungsform zu zweifeln. Ebenso wenig „unschuldig“ ist die vermeintliche „Zivilgesellschaft“ in Zerfallsregionen, wenngleich in erster Linie weniger aus moralischen als einfach aus strukturellen Gründen: Man kommt aus schierem Überlebenswillen meist gar nicht drum herum, mit den örtlichen Gangstern, Milizen oder korrupten Politikern Bündnisse eingehen zu müssen.
Doch auch in geschlechtlicher Hinsicht ist das Anrufen der Zivilgesellschaft eine äußerst kritische Angelegenheit, sind es doch weltweit größtenteils Frauen, die sowohl zu Hause als auch in Nachbarschaftsinitiativen für die Kinder, für den Haushalt und nebenbei auch noch für das Geld zu sorgen haben, während ihre Männer mit der Kalaschnikow um den Hals und im Vollrausch durch die Gegend ziehen. Es ist daher mehr als fragwürdig, in Szenarien wie dem im Folgenden zitierten einen etwaigen feministischen Machtgewinn sehen zu wollen:
„Nur dem jahrelangen Engagement zahlreicher internationaler Frauenorganisationen ist es zu verdanken, dass am 31. Oktober 2000 die UN-Resolution 1325 zu ‚Frauen, Frieden und Sicherheit‘ verabschiedet werden konnte. Inzwischen haben über 80 Länder nationale Aktionspläne verabschiedet, in denen sie sich verpflichten, die Partizipation von Frauen bei der Lösung von Konflikten und an Friedensverhandlungen zu stärken. Außerdem sollen noch mehr Frauen zu Blauhelmen ausgebildet werden. […] Parteien, die wenig oder gar keine Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung übernehmen – ihr Umgang mit Frauen ist dafür ein guter Indikator –, werden sich natürlich gegen Menschen wehren, die moralische Autorität [!] besitzen, weil sie die wirklichen Sorgen der Bevölkerung kennen [!], über deren Gewalterfahrungen Bescheid wissen und langjährige Erfahrungen mit der Übernahme von Verantwortung zum Schutz anderer haben [!!]. Es liegt in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, der UNO und ihrer Mitgliedsstaaten, ihre friedensfördernden Maßnahmen so zu reformieren, dass die wahren Peacebuilder [!] beteiligt werden. Denn sie verkörpern das entscheidende Gegenwicht zu denen, die ihre Macht einzig mit Waffen ausüben.“[49]
Frauen sollen also nicht nur auf privater, häuslicher Ebene auf ihre „langjährige[n] Erfahrungen mit der Übernahme von Verantwortung zum Schutz anderer“ vergattert werden, sondern auch noch nebenbei – gewissermaßen mit dem plärrenden Kleinkind im Arm – die Welt retten. Dass der zitierte Artikel von einer Frau geschrieben ist („2012 war ich als Gender- und Interventionsberaterin Mitglied des UN-Vermittlerteams in Somalia […]“[50]), zeigt, dass es sich bei diesem Mordsprogramm nicht nur um die wilden Phantasien männlicher law&order-Ideologen handelt, sondern eine solche Entwicklung durchaus auch von Frauen selbst als feministisch missverstanden und verkauft werden kann. Noch einmal: Da wird nichts mehr aufgebaut, weder von den US-Truppen oder der Bundeswehr noch von Warlords, Islamisten oder eben lokal rekrutierten weiblichen Blauhelmen.
Für eine emanzipatorische Linke, die es mit den dramatischen Krisenprozessen weltweit aufnehmen können möchte, kann es daher weder darum gehen, die westlichen Demokratiebomber zu verteidigen, noch darum, im zunehmenden westlichen Isolationismus und den Ethno-Massakern, Mafiaregimes und pseudoreligiösen Kopf-ab-Milizen der Peripherie auch nur die Spur einer vermeintlich „antiimperialistischen“ Alternative ausmachen zu wollen. Umso weniger kann es darum gehen, dem bürgerlichen Agnostizismus mit einer Mischung aus begriffsloser „Kampf“-Metaphysik und identitärer Empowerment-Ideologie zu sekundieren und den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen zu wollen, um sich nur umso schneller in den bürgerlichen Heimathafen von „Menschenrechten“ usw. zurückzuziehen: ein Hafen freilich, der mittlerweile am ehesten dem von Beirut gleicht. Nicht, dass letztere Option einfach moralisch „feige“ oder „reformistisch“ wäre (das sicherlich auch): Sie ist auch rein praktisch unmöglich geworden.
Quellen
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https://www.marx21.de/afghanistan-panikmache-im-sumpf-der-unwissenheit/
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Buchholz, Christine (02.07.2021): Afghanistan: Demokratie lässt sich nicht herbeibomben
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Dausend, Peter/Thumann, Michael (2021): »Viele stellen Fragen nach dem Sinn«. In: Die ZEIT 35/2021.
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Marx, Karl (1977, zuerst 1844): Zur Judenfrage. In: MEW Band 1, S. 347-377.
Marx, Karl (1975, zuerst 1853): Die britische Herrschaft in Indien. In: MEW Band 9, S. 127-133.
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Schetter, Conrad (2017): Kleine Geschichte Afghanistans. 4., erw. u. aktual. Aufl. München, C.H. Beck.
Schmidt, Helga (03.09.2021): Bloß keine Illusionen
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tagesschau.de (06.09.2021): Taliban sagen Schutz für Helfer zu https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-taliban-un-hilfsorganisationen-101.html
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von der Osten-Sacken, Thomas (01.09.2021): Offener Brief an Heiko Maas: Deutsches Totaldesaster in Afghanistan
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„11.01.2016 Repclub: Gespräch mit Thomas von der Osten-Sacken über die Situation im Nahen Osten“
https://www.youtube.com/watch?v=QP_V__wxYGg
Aufgerufen am 09.09.21.
Wolter, Udo (2021): Gewohnheit schlägt Erfahrung. In: JungleWorld 34/2021.
[1] von Bullion/Szymanski (2021).
[2] Dausend/Thumann (2021), Hervorhebung BS.
[3] tagesschau.de (2021).
[4] Dieser Artikel wurde Mitte September 2021 verfasst.
[5] Ruttig (2015), S. 18.
[6] Schetter (2017), S. 116.
[7] Rashid (2010), S. 293.
[8] Ebd., S. 256 f.
[9] Zitiert nach Kepel/Milelli (2006), S. 87.
[10] Rashid (2010), S. 379.
[11] Ruttig (2015), S. 18.
[12] Hansen (2015b), S. 39.
[13] Münkler (2010), S. 25, 27. Es ist bezeichnend für den allgemeinen Wissenschaftsbetrieb, dass Münklers in empirischer wie theoretischer Hinsicht sehr lesenswertes Buch über die „neuen Kriege“ letztlich doch wieder mit der – im Verhältnis zum Rest des Buches völlig inkohärenten – Hoffnung auf „Minimalbedingungen von Symmetrie“ (S. 241) endet. Man kann sich schlichtweg nicht eingestehen, dass hier ein Epochenbruch stattfindet; selbst dann nicht, wenn man ihn auf über 200 Seiten durchaus adäquat dargestellt hat.
[14] Ali (2021).
[15] Kurz (2003), S. 31.
[16] Schetter (2017), S. 150.
[17] Sehr empfehlenswert in diesem Kontext ist die Dokumentation „This is what winning looks like“ von Vice News aus dem Jahr 2013, welche den Vorlauf zum Truppenabzug ab 2014 sowie eben jenen „resoluten Support“ für die afghanische Nationalarmee behandelt.
[18] Hansen (2015a), S. 3.
[19] Schmidt (2021).
[20] Buchholz (2021).
[21] Ebd.
[22] Ebd.
[23] Lindisfarne/Neale (2021).
[24] Ebd.
[25] Ebd.
[26] Rashid (2010), S. 191 f.
[27] Lindisfarne/Neale (2021).
[28] Ebd.
[29] YouTube: „11.01.2016 Repclub: Gespräch mit Thomas von der Osten-Sacken über die Situation im Nahen Osten“, ab Minute 01:09:07. Der Link befindet sich im Quellenverzeichnis.
[30] Marx (1975/1853), S. 133. Auch die anderen Artikel von Marx zu Indien sind im Band 9 der MEW abgedruckt.
[31] Küntzel (2021).
[32] Ebd.
[33] Ebd.
[34] Wolter (2021).
[35] Einen interessanten und aufschlussreichen Einblick in diese Szene gibt Lisa Akbary (2015) in ihrem Artikel „Jugend im Aufbruch“ in der Sonderausgabe der Le Monde diplomatique zu Afghanistan.
[36] von der Osten-Sacken (2021).
[37] Ebd.
[38] Unsichtbares Komitee (2015), S. 179, Hervorhebung i. Orig.
[39] Vgl. hierzu Birkner/Foltin (2010), sowie in kritischer Hinsicht Kurz (2007), insbesondere S. 87-99.
[40] Hardt/Negri (2002), S. 225.
[41] „Nun ist unser Interesse nicht nur eine phänomenologische Beschreibung der Situation, die wir vorfinden, sondern auch, die in dieser Situation sich bietenden Möglichkeiten zu erkennen.“ (Ebd., S. 264).
[42] Ebd., S. 225.
[43] Ebd., S. 370.
[44] Vgl. obiges Zitat des „Unsichtbaren Komitees“.
[45] Rudhof-Seibert (2021).
[46] Ladurner (2021).
[47] Dasselbe gilt für die zweifelsohne unterstütztenswerten Rettungsaktionen im Mittelmeer. Dass es mittlerweile durch Spenden finanzierte bürgerlich-humanitäre sowie linke Organisationen sind, die Flüchtlinge aus den Fluten retten müssen, ist kein Zeichen vermehrten kritischen Bewusstseins oder gar linker „Handlungsmacht“, sondern Resultat des gesamtgesellschaftlichen Zerfalls.
[48] Marx (1977/1844), S. 364. Hervorheb. i. Orig.
[49] Naraghi Anderlini (2020).
[50] Ebd.