Oder: Ernst Schmitters Wertkritik light
Kriterium des Wahren ist nicht seine unmittelbare Kommunizierbarkeit an jedermann. (Theodor W. Adorno)
Das Abstraktionsniveau radikaler Gesellschaftskritik misst sich nicht am Gutdünken des Kritikers oder der Kritikerin, sondern an der realen Abstraktion kapitalistischer Vergesellschaftung, die als Objekt der Kritik die Notwendigkeit theoretischer Abstraktion vorgibt. Gesellschaft als reale Verkehrung, die als fetischistischer Prozess hinter dem Rücken ihrer ExekutorInnen gleichsam durch diese hindurch sich vollstreckt, entzieht sich dem Verständnis des Alltagsverstandes, der konsequent die Reflexion auf seine eigene Borniertheit verweigert. Die gedankliche Anstrengung als Negation des gesunden Menschenverstands, als partielles Heraustreten aus der eigenen Formbestimmtheit, ist daher Bedingung der Möglichkeit von Kritik. Gerade der narzisstische Sozialcharakter der Postmoderne, welcher zum Objektbezug ohnehin unfähig ist – und nichts anderes ist die Kritik als sublimiertes Beharren bei einem Unlust bereitenden Gegenstand mit der Hoffnung auf seine baldige Abschaffung –, dessen Aufmerksamkeitsspanne so kurz wie seine Frustrationsgrenze niedrig ist, sehnt sich nach der Vereinfachung von komplexer Theoriebildung zu erstarrten Formeln, die jederzeit zur „Operationalisierung“ taugen sollen. Vergessen das auf Hegel rekurrierende Diktum Adornos, dass sich gelungene Theoriebildung gerade auch dadurch auszeichnet, sich nicht auf einen Spruch bringen zu lassen – sowenig eben, wie das „warenproduzierende Patriarchat“ (Roswitha Scholz) selbst sich auf einen Spruch bringen lässt. Der in der Linken allgegenwärtige Affekt gegen die gedankliche Abstraktion ist daher auch immer schon eine Apologie derjenigen realen Abstraktion, welche die Gesellschaft an ihren Zwangsmitgliedern vollstreckt.
Dieses Simple – dass also die Komplexität einer Theorie sich ihrerseits an der Komplexität ihres Gegenstandes zu orientieren hat – gerät zum Problem gerade solcher Publikationen, die sich die Einführung in eine Theoriebildung zum Ziel gesetzt haben und damit notwendig Verkürzungen in Kauf nehmen. Es dürfte kein Zufall sein, dass etwa die Einführungen in Marxens „Kritik der politischen Ökonomie“ durchgehend meilenweit hinter Marx zurückbleiben. Als Beleg denke man/frau allein an die Einführung von Michael Heinrich[2], der mit seinem Marktpositivismus nicht nur hinter Marx zurückbleibt, sondern schlimmer noch sich bemüht, aus Marx einen Heinrich zu machen. Robert Kurz mag sich dieser Probleme didaktischer Zurichtung bewusst gewesen sein, als er mit „Marx lesen“[3] weniger eine Einführung denn eine kommentierte Kompilation signifikanter Originalstellen vorlegte und den LeserInnen damit ihre notwendige gedankliche Eigenleistung nicht abnahm, sondern sie vielmehr zu einer solchen ermutigte.
Nun hat Ernst Schmitter – „Umweltaktivist, Publizist, Wachstumskritiker“ – mit „Sackgasse Wirtschaft“[4] im edition 8-Verlag eine 173-seitige „Einführung in die Wertkritik“ vorgelegt. Den Zweck seines Werkes umschreibt er im Vorwort folgendermaßen: „Mit der vorliegenden Einführung in die Wertkritik möchte ich diesen drei Schwierigkeiten Rechnung tragen. Der Schwerverständlichkeit durch eine möglichst einfache Darstellung der Grundgedanken der Wertkritik. Der Praxisferne wertkritischer Schriften, indem ich auf mögliche Verbindungen zwischen Wertkritik und emanzipatorischer Praxis hinweise. Dem Bezug auf Marx dadurch, dass ich bei den Lesenden keine Marxkenntnisse voraussetze und auf den marxistischen Fachwortschatz soweit möglich verzichte. Das Buch ist somit eine Übersetzungs- und Vermittlungsleistung.“[5] Eine Reflexion auf die Schwierigkeit, dass einer solchen „Übersetzungs- und Vermittlungsleistung“ ein Reduktionismus innewohnen könnte, der einer Theoriebildung den Stachel zieht, die nicht grundlos auf ihrem Abstraktionsniveau insistiert, lässt sich bei Schmitter allerdings nicht finden. Die Gefahr jeder einführenden Lektüre, bestenfalls geronnene Resultate zu präsentieren und sich damit der Verdinglichung der Reflexion anheim zu geben, die dem Prozessieren der Gesellschaft immer schon korrespondiert, lässt Schmitter unbeachtet, was seiner gesamten Einführung dann leider auch anzumerken ist.
I
Dass sich die Absenz jedweder Reflexion auf die Gefahr eines Reduktionismus an Schmitter rächen wird, beweist bereits seine Darstellung der Marxschen „Werttheorie“, die freilich ganz ohne Marx auskommen muss, um nicht allzu komplex zu erscheinen. Entfaltete Marx das Wesen des Geldes noch anhand des Doppelcharakters der Ware, der sich als „Verdopplung der Ware in Ware und Geld“[6] den Spielraum seiner fetischistischen Widersprüchlichkeit verschafft, insistierte er solcherart auf der prozessierenden Identität von Ware und Geld als Emanationen abstrakter Arbeitssubstanz: „[D]er Tauschwert der Ware ist ihre immanente Geldeigenschaft; diese ihre Geldeigenschaft löst sich von ihr als Geld los, gewinnt eine allgemeine, von allen besonderen Waren und ihrer natürlichen Existenzweise gesonderte soziale Existenz; das Verhältnis des Produkts zu sich als Tauschwert wird sein Verhältnis zu einem neben ihm existierenden Gelde oder aller Produkte zu dem außer ihnen allen existierenden Geld.“[7] Fleisch vom Fleische der Waren und ihres Doppelcharakters, lässt sich das Geld mit Marx nicht in einen äußeren Gegensatz zu jenen bringen. Dagegen schlägt Schmitter in die bereits zerfledderte Kerbe der Ideologen dieser Welt, indem er das abstrakte Geld dem ach so konkreten Produktionsvorgang entgegenstellt: „Nein, es ist klar, dass nur produziert wird (konkreter Vorgang), was bezahlbar ist (abstrakter Sachverhalt) […] Deswegen müssen wir bei der Herstellung von konkreten Gütern immer den Umweg über das abstrakte Geld nehmen.“[8] Konsequent gegen Marx interpretiert Schmitter den abstrakten Reichtum als Geld (nicht als Wert), den stofflichen Reichtum dagegen als die konkreten Güter (von deren Dasein als Gallerten abstrakter Arbeit keine Rede ist), die nur ihrer Geldvermittlung wegen Warencharakter annähmen. „Versuchen wir kurz, uns vorzustellen, was das heißen würde: eine Welt ohne abstrakten Reichtum. In dieser Welt gäbe es keine Banknoten, keine Wertschriften, keine finanziellen Guthaben und, andererseits, keine Schulden. Alles, was zum abstrakten Reichtum gehört oder ihn ermöglicht, würde in dieser Welt fehlen. Es gäbe keinen Markt, keine Banken, keine Börse, keine Finanzindustrie und keine Währungsschwankungen, weil es keine Währungen gäbe, auch keine Alternativ- oder Lokalwährungen. Spekulation, Werbung, Bilanzen und Bruttoinlandsprodukt wären Begriffe aus einer vergangenen Zeit, die in der Gegenwart der geldlosen Welt keinen Sinn mehr hätten.“[9] Man/frau darf beruhigt sein, dass uns gemäß dieser minutiösen Aufzählung zumindest die Stahlwerke und alle anderen handfesten Konkreta erhalten bleiben. Hat Schmitter somit die gesellschaftliche Form allein ins Geld verlegt und die Produktion zum Hort der Konkretion erkoren – eine Vorstellung, gegen die sich die Theorie stets vehement wandte, in die Schmitter einzuführen Anspruch erhebt –, kann er auch fern von Marx als innovative Eigenkreation die abstrakte Arbeit so bestimmen: „Die andere Seite der Arbeit ist an der Schaffung von abstraktem Reichtum beteiligt. Wir verdienen in der Lohnarbeit Geld und wir ermöglichen es unserem Unternehmen, dank unserer Arbeit Geld zu verdienen. Und in dieser Beziehung sind wir absolut austauschbar.“[10] Wieder ist es das Geld, das der Arbeit den Stempel der Abstraktion aufdrücken und Austauschbarkeit generieren soll. Schmitter weiß deshalb, was auch ohne ihn bereits alle wissen; dass es Arbeit nämlich schon immer gegeben habe und auch zukünftig immer geben wird: „Warengesellschaft hin oder her, eine Gesellschaftsform ohne Arbeit wäre nicht denkbar.“[11] Mit dem Totschlagargument des gesunden Menschenverstands, immun gegen jeden Hinweis auf gesellschaftliche Formbestimmung, die sich nicht aufs Geld herunterbrechen lässt, stellt sich für den Autor die Signifikanz kapitalistischer Arbeit allein als „bezahlte Arbeit“ her. Des Autors „Welt ohne Geld, also ohne Lohnarbeit“ entpuppt sich als Welt ohne Lohn, wohl aber mit genügend Arbeit. Eine Erklärung dafür, warum solch grober Unfug im Kapitel „Die Werttheorie von Karl Marx I“ zu lesen ist, bleibt Ernst Schmitter seinen LeserInnen schuldig.
II
Nun hat Ernst Schmitter eine Einführung in die Wertkritik, nicht eine in die Wert-Abspaltungs-Kritik vorgelegt, was angesichts der Resistenz androzentrischer Ausblendungen kaum verwundern darf. Trotzdem verhandelt er im Vorübergehen auch die Abspaltung, auf deren Gleichursprünglichkeit mit dem Wert hingewiesen wird. Dass der Wert auf die Abspaltung angewiesen ist, räumt Schmitter ausdrücklich ein, nur um diesen Sachverhalt dann in Latenz permanent wieder zurückzunehmen, indem er seine Leier von Ware, Wert und Geld nur an zufälligen Stellen noch halbherzig um den Hinweis auf die geschlechtliche Abspaltung ergänzt. Der Wert (was auch immer das bei ihm sein soll) ist und bleibt Schmitters primärer Bezugspunkt: „Der Wert ist der Kern des warenproduzierenden Systems namens Kapitalismus.“[12] Gerade das formale Zugeständnis an die Abspaltungstheorie bei ihrer gleichzeitigen Verdrängung in die Peripherie der Theoriebildung zeichnet den Androzentrismus Schmitters aus. Indem der Abspaltungstheorie eine Nischenexistenz zugestanden wird, um sie unschädlich zu machen, kann sich der Wertkritiker eine eingehendere Auseinandersetzung mit der „gebrochenen Totalität“ (Roswitha Scholz) und ihrer weitreichenden Implikationen für die Kritik ersparen. Die inhaltlichen Differenzen zwischen „exit!“ und „Krisis“ finden bei Schmitter deshalb auch kaum Beachtung: neben dem Abspaltungstheorem wären auch die Differenzen hinsichtlich Aufklärungs- und Ideologiekritik zu benennen sowie der Revisionismus hinsichtlich der Krisentheorie, der von „Krisis“ fleißig forciert wird.[13]
III
Ernst Schmitter betont in seiner Einführung immer wieder den gewaltförmigen Charakter der Kapitalverwertung in all ihren Epochen. Trotz seiner ominösen Bestimmungen der „abstrakten Arbeit“ wird die Krisentheorie durchaus ernst genommen: Dass sich der Kapitalismus im Stadium seines Zerfalls nicht in Wohlgefallen, sondern in die Barbarei auflösen wird, hebt Schmitter immer wieder hervor. Vor diesem Hintergrund grenzt er sich auch von einer Linken ab, die im Rahmen der politischen Verhältnisse verharrt statt die Politikform als solche zum Gegenstand der Kritik zu machen. Leider befindet sich Schmitter selbst keineswegs jenseits der „Verkürzungen“, die er der nicht-wertkritischen Linken attestiert; vielmehr laviert er zwischen dem Postulat fundamentaler Kritik einerseits und dem Rekurs auf Demokratie, Aufklärung und Menschenrechte andererseits, deren Potential erst noch zu verwirklichen sei.
Genau wie der Rest der Linken attestiert Schmitter der Aufklärung einen Mangel an Universalismus. Ihr Ziel einer „Fortsetzung der Menschheitsbefreiung“ hätte sie nur zum Teil verwirklicht, dem „Programm der Befreiung der Menschen einen engen Rahmen“ gesetzt, die Menschenrechte nur für „ein bis fünf Prozent“ der Menschheit realisiert. „Hat die Aufklärung nicht zumindest das Verdienst, die universelle Gültigkeit der Menschenrechte ein für alle mal etabliert und damit für alle Zeiten einen Maßstab gesetzt zu haben, an welchem vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gesellschaften zu messen sind? Die Wertkritik beantwortet diese Frage folgendermaßen: Die Aufklärung hat diesen Maßstab in der Tat gesetzt, indem sie die Menschenrechte als allgemein gültige Rechte, als universellen Anspruch aller Menschen in die Welt setzte. Aber gleichzeitig hat sie entscheidend an der Durchsetzung eines Systems gearbeitet, das die universelle Verwirklichung dieser Rechte verhindert. […] Ob es den Autoren der Aufklärung bewusst war oder nicht, sie haben jedenfalls ein Versprechen in die Welt gesetzt, von dem man jetzt weiß, dass es im Kapitalismus nie einzulösen sein wird“ (Herv. i. O.)[14]. Wer sich einerseits von den Verwirklichungsphrasen der Linken abgrenzt, sollte ihnen andererseits besser nicht nach dem Maul reden.
Schmitter dissoziiert kurzerhand die ökonomischen Daseinsformen der selbstzweckhaften Wertverwertung von ihren politischen Rechts- sowie ihren Gedankenformen, zu denen die Menschenrechte zählen. Als politischer wie ideologischer Ausdruck der Warenförmigkeit des Subjekts sind Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte der Wertverwertung immer schon adäquat. Ihr Universalismus, Spiegelbild der nihilierenden Warenform, richtet sich als „repressive Egalität“ (Adorno/Horkheimer) stets gegen das leibliche Individuum, dessen Dasein jenseits seiner Funktion als Arbeitskraftbehälter nichtig ist. Die Menschenrechte sind deshalb keine „leeren Versprechungen“[15], sondern das Versprechen der Leere, der absoluten Identität und vollkommenen Kommensurabilität der Individuen als Rechts- und Arbeitssubjekte. Keine leere, sondern eine handfeste Versprechung, die sich an den und gegen die Individuen bereits realisierte, weshalb nicht die Verwirklichung der Warenförmigkeit für alle, sondern die Abschaffung derselben mitsamt ihren rechtlichen und ideologischen Repräsentanzen, also auch der Menschenrechte – identitätsstiftende Zwangsjacke des Individuums bei Drohung seines Untergangs im Moment der Krise –, Ziel einer emanzipatorischen Kritik sein muss.
IV
Im zweiten und kürzeren Teil seiner Einführung verhandelt Schmitter die Frage nach der Anschlussfähigkeit der Wertkritik für eine „systemüberschreitende“ Praxis. Er moniert, die Wertkritik habe „zum antikapitalistischen Widerstand und zur Befreiungspraxis bisher so gut wie nichts beigetragen“[16] und optiert deshalb für eine Öffnung gegenüber kritischen Praxisformen. In diesem Zusammenhang kommt er auf die „Degrowth“-Bewegung zu sprechen, welche gewagt hätte, „das Tabu des Wirtschaftswachstums anzutasten“[17]. In Wahrheit handelt es sich dabei mittlerweile keineswegs mehr um einen Tabubruch, sondern um allgegenwärtige Ideologie. Wer ist heute nicht „wachstumskritisch“? Dass sich derlei Gruppierungen der „kategorialen Kritik“ (Robert Kurz) erwehren, hat auch Schmitter realisiert und fordert deshalb von ihnen, ihr „Theoriedefizit“ zu beheben, die Wertkritik zur Basis ihrer Praxis zu machen und damit eine „Führungsrolle“ im „antikapitalistischen Widerstand“ einzunehmen.[18] Inhalte sind jedoch keine Bauklötze, die man aufeinanderstapeln könnte, damit etwas Ansehnliches dabei herauskomme. In WachstumskritikerInnen, SubsistenzfanatikerInnen und anderen NotstandsverwalterInnen, deren diffuse Krisenangst sich in den Ersatzhandlungen etwa eines klimabewegten Moralismus oder eines enthaltsamen Konsums beschwichtigt, lässt sich kein Anschluss für radikale Kritik finden. Bar jeder Ideologiekritik kann Schmitter zwar konstatieren, aber nicht erklären, weshalb die „gutwilligen Wachstumsverweigerer“ immer wieder von rechts „vereinnahmt“ würden. Der Grund wäre vielleicht gerade in ihrem Dasein als gutwillige Wachstumsverweigerer und ihrem notorischen Hang zum Konkretismus zu finden. Wer, wo die Akkumulation des Werts schon lange nicht mehr floriert, für eine Einschränkung der Produktionsmengen optiert, mithin stofflichen und abstrakten Reichtum heillos konfundiert, endet notgedrungen bei der Forderung nach Mäßigung, die mal der Staat, mal der Konsument zu seinem obersten Imperativ zu machen habe. Oder anders: Wo das Gefasel von der Reduktion des Wachstums auf jeden Begriff einer Wertsubstanz verzichtet und ausschließlich die stoffliche Dimension des Warenausstoßes zum Problem deklariert, gleichsam die innere Schranke der Verwertungslogik zur äußeren des Klimas oder der Ressourcenknappheit umbiegt, liegt die Idee einer guten ,einfachen Warenproduktion‘ ohne überschießende Finanzspekulationen und Wachstumsgier schon in der Denkbewegung beschlossen. Die Postwachstumskritik antizipiert ein Kapital ohne Krise, leidet daher nicht an einem „Theoriedefizit“, sondern ist ihrer Logik nach Ideologie schlechthin.
Der Einwand gegen Praxis – also „weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen“[19] – bedeutet dabei keinen Rückzug auf hygienische Theorie etwa in akademischer Manier, sondern eine Kritik im Auseinandersetzungsfeld der radikalen Linken – allerdings nicht mit, sondern gegen die Proponenten einer Wachstumskritik. Obgleich er sie zur weitergehenden radikalen Kritik auffordert, teilt Schmitter die Grundprämisse der spätpostmodernen Bewegungen: „Das richtige Leben im falschen ist also möglich, wenn man es nicht als Glück im Winkel gestaltet, sondern zu einem Moment des gesellschaftlichen Widerstands macht.“[20] Leider wird gerade andersherum ein Schuh daraus: noch den schäbigen Winkel politisieren zu wollen – auf die Spitze getrieben von KonsumkritikerInnen, VeganerInnen und anderen ExorzistInnen – ist eine Zumutung, der sich zu entziehen einzig noch Gewähr für ein wie auch immer beschädigtes Glück im Kleinen böte und zudem die Möglichkeit offen hielte, Kritik nicht durch Moral zu substituieren. Die ursprünglich subversiv gemeinte Sentenz der 68er, dass das Private politisch sei, gerät heute zum anklagenden Voyeurismus gegen alle, die sich nicht um ihren CO2-Fußabdruck scheren, sondern an der Hoffnung auf eine Welt festhalten, in der ein „richtiges Leben“ möglich wäre. Dass die so „aufgeklärten“ und „bewussten“ KonsumentInnen die Grundprämissen des Neoliberalismus teilen, den sie zu kritisieren meinen, indem sie nämlich die Verwaltung des globalen Elends in die Verantwortung des Vereinzelten und seines Konsums legen – und dabei freilich den Spielraum der verbliebenen westlichen Mittelschicht heillos überschätzen, die allein noch die Wahl hat zwischen Demeter, Bio und Co. –, ist Beleg ihrer, wenngleich ätzenden, Zahnlosigkeit.
Im bienenfleißigen und geistfeindlichen Kleinklein kann dann schon mal auch die Abspaltung „im eigenen Lebenszusammenhang“ als „Teil des gelebten Widerstands“ abgeschafft werden – selbstverständlich ganz „im Sinne Adornos“[21]. Wird vom Wert immerhin noch behauptet, er und seine Selbstzweckbewegung könnten nicht innerhalb des Kapitalismus abgeschafft werden, kann Schmitter offensichtlich einfach aufhören, androzentrisches Subjekt zu sein – „im eigenen Lebenszusammenhang“ natürlich. Freilich weist er sich gerade dadurch als der Androzentriker aus, der er ist, wird die Abspaltung doch durch solcherlei Behauptungen zum Peripheren deklassiert und nicht als formgebender Teil der gesellschaftlichen Totalität verstanden.
So smart Schmitters Rekurs auf die Postwachstumsbewegung wirkt, so altbacken hingegen seine Bezugnahme auf den Klassenkampf. Reicht der „Widerstand“ im „eigenen Lebenszusammenhang“ nicht hin, muss halt zusätzlich aufs revolutionäre Subjekt gepocht werden. Wertkritik und Klassenkampf bekommt Schmitter allemal unter einen Hut: „Viele Marxisten können nicht zur Kenntnis nehmen, dass der Klassenkampf nur zu einer Überwindung des warenproduzierenden Systems führen kann, wenn er auf der Grundlage einer kategorialen Kapitalismuskritik geführt wird, und werfen der Wertkritik reflexartig Verrat vor. Und aufseiten der Wertkritik ist man zu zurückhaltend in Bezug auf das Befreiungspotenzial, das der Klassenkampf trotz allem hat.“[22] Die Wertkritik soll laut Schmitter noch nicht klar gemacht haben, was den Klassenkampf ersetzen soll. Hätte er die Theorie, die er darzustellen beansprucht, zur Kenntnis genommen, dann wäre ihm klar, dass gerade die Kritik an der Immanenz des Klassenstandpunkts durch die Wert- und später durch die Wert-Abspaltungs-Kritik als Integrationswunsch und Anerkennungssehnsucht des Proletariats und ihrer Arbeitssubjektivität ausgearbeitet wurde. Nach einer Formulierung Postones entwarf die Arbeiterbewegung statt einer Kritik der Arbeit stets eine Kritik vom Standpunkt der Arbeit, brachte diese in einen Scheingegensatz zum Kapital und affirmierte so die gesellschaftliche Grundlage, die es abzuschaffen gilt. Zu fordern, der Klassenkampf solle „nicht Anerkennung innerhalb des fetischistischen Systems anstreben, sondern […] mit dem Ziel der Überwindung des Systems geführt werden“[23], ist daher eine veritable contradictio in adjecto.
Mehr seinem eigenen Wunschdenken als der tatsächlichen Theoriebildung entspringt auch die Behauptung, für Wert- und Wert-Abspaltungs-Kritik sei „klar, dass die entscheidenden Anstöße von den Menschen ausgehen müssen, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen im warenproduzierenden System am meisten zu leiden haben. Das sind erstens die in der Warenproduktion Ausgebeuteten, also in der Tat das, was der Marxismus das Proletariat nennt; es sind zweitens alle aus der Lohnarbeit Herausgefallenen und Überflüssigen, deren Zahl täglich zunimmt; und es sind drittens die von der geschlechtlichen Abspaltung in ihrem Alltag betroffenen Frauen.“[24] Vom revolutionären Subjekt und seiner Surrogate kann Schmitter einfach nicht lassen. Schade nur, dass es gerade die Wert- und Wert-Abspaltungs-Kritik war, die den Fokus auf ein solches samt dem Klassenkampf verabschiedete. Das „Proletariat“ ist als Mittelschicht längst in die Mühle integriert und wird zum Mob im Moment seiner zunehmenden Desintegration. Die „Abgehängten“, also die abgefallene Mittelschicht, ist alles andere als subversiv, findet im Gegenteil immer noch ärmere Hunde, nach denen sich treten lässt. Die „Überflüssigen“ haben sich trotz aller linker Beschwörungen nicht als so revolutionär erwiesen wie erhofft. Dass mit den Flüchtlingen etwa keine Weltverbesserer, sondern von Krieg und Elend zerstörte Individuen in Europa ankamen, dürfte die eine oder den anderen Linken gehörig enttäuscht haben. Gerade gegen alle linken Projektionen muss ihnen Solidarität zuteil werden. Dass auch die Frauen nicht eher zur Kritik prädestiniert sind als andere, darauf haben Teile des Feminismus im Allgemeinen und Roswitha Scholz im Besonderen immer wieder hingewiesen.
V
Entgrätet und vorgekaut flutscht Schmitters ganz eigene Wertkritik light vermutlich all jenen die Kehle herunter, denen die Wert-Abspaltungs-Kritik schon immer Unbehagen bereitet hat und denen sie eigentlich im Halse hätte stecken bleiben sollen. Abgeflacht und auf einen allen verständlichen Nenner gebracht – Kapitalismus führt zur Krise und die Überwindung der Krise kann nur eine des Kapitals sein –, wird sie mit wachstumskritischer Praxis verheiratet und gesellschaftstauglich aufbereitet. Schmitters Wertkritik, eine grundsolide Theorie als Unterbau für Praxis in Massenbewegungen sowie im „eigenen Lebenszusammenhang“, kann sich – nachdem ihr jede garstige Renitenz ausgetrieben wurde – wirklich sehen lassen. Wer aber nicht bereit ist, Kritik zugunsten der „unmittelbaren Kommunizierbarkeit“ einer zur Formel erstarrten Theorie an den Nagel zu hängen, bleibt wohl weiterhin auf die gedankliche Anstrengung verwiesen, die Ernst Schmitter einem ersparen möchte. Radikale Gesellschaftskritik ist bei aller Evidenz dessen, „daß Leiden nicht sein soll“, auf die Aufhebung dieser unmittelbaren Wahrheit in theoretischer Kritik angewiesen, sofern sie nicht zur ohnmächtigen Phrasendrescherei verkommen möchte. Agiert sie wie Schmitters Einführung konsequent unterm Realabstraktionsniveau der Gesellschaft, bleibt sie so falsch wie diese.
[1]Dieser Text war ursprünglich zur Publikation auf der Homepage der Gruppe Exit! angedacht, wurde jedoch aufgrund interner Differenzen von der Veröffentlichung abgehalten. Innerhalb der Exit!-Redaktion konnte man sich nicht zu einer klaren Kritik an Schmitters „Einführung in die Wertkritik“ durchringen, die man dort teilweise als durchaus gelungen ansieht.
[2]Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 2004.
[3]Kurz, Robert: Marx lesen! Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2006.
[4]Schmitter, Ernst: Sackgasse Wirtschaft. Einführung in die Wertkritik, Zürich 2018.
[5]Ebd., S. 10.
[6]Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1, Berlin 2008, S. 119.
[7]Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1953, S. 65.
[8]Schmitter, S. 25f.
[9]Ebd., S. 27.
[10]Ebd., S. 33.
[11]Ebd., S. 32.
[12]Ebd., S. 34.
[13]Ernst Lohoff räsoniert in seinem neuesten Erzeugnis über ein ganz neues Akkumulationsregime und „ganz neue Akkumulationsspielräume“. Mit dem freilich nur in Lohoffs Gedanken existenten neuen „Mechanismus der Kapitalbildung jenseits der Wertverwertung“ entsorgt er die Reste einer wertkritischen Krisentheorie nun vollkommen. Vgl. Lohoff, Ernst: Die allgemeine Ware und ihre Mysterien. Zur Bedeutung des Geldes in der Kritik der politischen Ökonomie, 2018 (online einsehbar).
[14]Ebd., S. 114.
[15]Ebd., S. 111.
[16]Ebd., S. 119.
[17]Ebd., S. 137.
[18]Ebd., S. 139.
[19]Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 2003, S. 63.
[20]Schmitter, S. 141.
[21]Ebd., S. 146.
[22]Ebd., S. 119.
[23]Ebd., S. 154.
[24]Ebd., S. 154.