„[N]iemand hat eine Antwort auf die Frage, ob er irgendwo einen Boden sieht, auf den alles, was einstürzt, fallen kann. Ein Boden, wie tief auch immer gelegen, wäre ein Ende, ein Abschluss, von dort kann man neu aufbauen.“[1]
Der Sturz ins Bodenlose: Dieses Bild steht nicht nur für einen materiellen Zusammenbruch; es steht für einen identitären Kollaps des bürgerlich-kollektiven Bewusstseins. Doch die über Jahrhunderte eingeschliffenen psychologischen Abwehrmechanismen greifen; reflexartig wird der Satz, es „wäre eine Ende“ in Sicht, der konjunktivische Anklang ans „Unmögliche“, verdrängt; es gibt ein danach, es „kann neu auf[ge]bau[t] [werden]“. Das Gefangen-Sein des bürgerlichen Denkens in seiner Subjektform und die dumpfe Ahnung, dass dieselbe historisch unhaltbar geworden ist, diese sich zuspitzende Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Denkens unter den Bedingungen der Krise produziert eine eigentümliche Dialektik der Ideologien.
Die rapide Zunahme des Antisemitismus, Resultat der subjektivistischen Schuldzuweisung der Krise an gierige Banker und Spekulanten, hat eine eigene Dynamik gewonnen. Wenn ein Ahmadinejad mit einer Brandrede im UN-Hauptquartiert eine jüdische Weltverschwörung proklamieren kann und dafür Beifall erhält, wankt eine der letzten Schranken vor dem endgültigen Übergang der Moderne in die Barbarei: Das Existenzrecht Israels.[2]
Dieser (strukturelle) Antisemitismus war schon immer begleitet von der Affirmation eines kleinbürgerlichen Standpunktes, welcher zunehmend an Bedeutung gewinnt: „Denn wenn eine Welt zusammenstürzt, wird eine neue entstehen, und in dieser neuen Welt sehen zum Beispiel die beiden Fraktionsvorsitzenden der Großen Koalition (…) eine Renaissance der deutschen Politik.“ Denn diese „haben daheim ja die Alternative zum angelsächsischen Turbokapitalismus, wenn sie auch vernachlässigt wurde: die soziale Marktwirtschaft, die für Skrupel steht, für Rücksicht, für Ausgleich.“[3]
Man „hat“ schon die Alternative. Entrüstet steht der Normalbürger vor dem Warenregal und erhofft sich von dem zukünftigen Produkt einiges: Nicht so viel Spaßfaktor zwar, aber dafür eine längere Gebrauchsgarantie. Das präformierte Bewusstsein kann „Kritik“ nur in dumpfer Hilflosigkeit artikulieren. Die Differenz zwischen dem Seienden und der Kritik desselben ist eingeebnet. Der kritisierte Gegenstand ist nicht Gegenstand der Kritik.
Diese reaktionäre Ideologie drückt sich im Anklang an das „schaffende Kapital“ und die Besinnung auf gute deutsche Handarbeit aus. Die keynesianistische Ideologie, Kehrseite des Neoliberalismus und in der Fundamentalkrise der 3. Industriellen Revolution genauso illusionär wie dieser, hat konjunkturellen Aufwind: „Wie jede Krise“ verkündete Angela Merkel in der Regierungserklärung zur Finanzkrise „bietet auch diese Krise des Finanzsektors eine Chance. Sie bietet die Chance, dass alle innerhalb und außerhalb Deutschlands die internationale Dimension der sozialen Marktwirtschaft erkennen, verstehen lernen und den Anspruch haben, sie gestalten zu wollen.“[4]
Die Illusion einer „Weltpolitik“, einer internationalen Regulierung der globalen Wirtschaft, die dabei heraufbeschworen wird, verkennt vollkommen die Widerspruchsebene zwischen notwendig nationalem Bezugsrahmen des Kapitals und der Tendenz zur Schrankenlosigkeit desselben:
„Im Lichte dieser Argumentation zeigt sich erst, wie wenig sinnvoll und kontrafaktisch es ist, die mikroelektronische Revolution der Produktivkräfte und die neue Qualität der Globalisierung als isolierte ‚Faktoren’ gegeneinander ausspielen zu wollen. Die Globalisierung des Kapitals geht aus der Zuspitzung des kapitalistischen Selbstwiderspruchs erster Ordnung zwischen Produktivkraftentwicklung einerseits und Mehrwertproduktion/ kaufkräftiger Konsumtionsfähigkeit andererseits hervor; und der Prozess, in dem das Kapital vor dieser Zuspitzung gewissermaßen auf die Weltmärkte und in transnationale Strukturen flüchtet, schlägt auf den kapitalistischen Selbstwiderspruch zweiter Ordnung zwischen Nationalökonomie bzw. Nationalstaatlichkeit einerseits und Weltmarkt andererseits zurück und spitzt diesen ebenfalls zu.“[5]
„Aber ich sage auch“ fährt Angela Merkel ein paar Sätze später fort „auch in dieser schwierigen Stunde: Deutschland ist stark. Deutschland hat sich in den letzten Jahren sehr gut aufgestellt, daran haben viele mitgewirkt, und es ist gerüstet für den globalen Wettbewerb.“
Schwadronierte sie zuvor noch von einer „internationale[n] Dimension der sozialen Marktwirtschaft“, fällt sie reflexartig auf die nationale Ebene zurück – das bürgerliche Bewusstsein ist hin- und her geschleudert in seiner Zerrissenheit: Solche Argumentation ist grotesk: Monate vor dieser Proklamation eines starken Deutschlands wurden Senkungen der Unternehmenssteuern und der Reallöhne noch mit dem Druck der Globalisierung auf den Staat begründet; die postulierte „Weltregierung“, in Form der sozialen Marktwirtschaft in guter deutscher Tradition, Widerspruch in sich, wird Minuten später zugunsten eines starken Deutschlands selbst in Frage gestellt. Einem Bewusstsein, welches sich von dem Anspruch jeglicher Stringenz in der eigenen Argumentation verabschiedet hat, ist alles zuzutrauen. Diese Sätze wären nicht ernst zu nehmen und in ihrer Lächerlichkeit zu ignorieren, wenn sie nicht rassistische Ressentiments schüren würden.
Wenn dabei Angela Merkel die „soziale Marktwirtschaft“ als deutsches Phänomen bemüht und dabei auf Bedeutung der „sozialen Marktwirtschaft eines Ludwig Ehrhards“[6] hinweist, ist dies Ausdruck der historischen Verdrängungsleistung des bürgerlichen Bewusstseins: Das Nachkriegsdeutschland in seiner institutionellen Gestaltung war hauptsächlich Produkt der westlichen Alliierten. Aber dem Inhalt steht diese Ideologie sowieso gleichgültig gegenüber, da sie eine bloß abstrakte Identität konstituiert; man kann nur hoffen, dass dem historischen Erinnerungsvermögen dieser Funktionseliten die zwölf Jahre davor präsenter sind.
Der ideologische Stimmungsumschwung der bürgerlich-neoliberalen Funktionseliten, welcher in der Aufstiegsbewegung des Kapitalismus Jahre, oftmals Jahrzehnte dauerte, offenbart eine grauenhafte Dialektik der Ideologie. Die Irrationalität, dem (deutschen) Nationalstaat eine derartige Kohärenz und Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen einer transnationalen Struktur des Kapitals zuzugestehen, zwingt das Bewusstsein zu neuer Ideologiebildung. Roswitha Scholz hat diesen Zusammenhang von Antiziganismus und sozialen Abstiegsprozessen analysiert:
„Es geht dabei jedoch gleichzeitig um weiter gefasste soziale Prozesse der Krisenverwaltung und der Erfindung von Delinquenz. Heute ist gewissermaßen jeder und jede, selbst und gerade in den berühmten Mittelschichten, vom Absturz bedroht. Eine gewisse Verallgemeinerung des Zigeunerstereotyps in der Krisenverwaltung zeigt sich nicht bloß bei der Denunziation von Hartz-IV-Empfängern und einer Allroundüberwachung (angeblich zum Schutz vor Terroristen) inklusive physiometrischen Ausweisen und digitalisierten Fingerabdrücken. Heute befürchtet potentiell jeder, sich als Bettler oder Vagabund im Elendsviertel wieder zu finden. Es kommt zu einer ‚Zwangsbohemisierung’ (Diedrich Dietrichsen), aber mit der Verpflichtung zur Zwangsarbeit. Im Kontext der neuen Massenmigration sind Flüchtlinge, die ‚Stütze’ brauchen, per se schon in der klassischen Zigeunerposition. Auch das Problem der ‚Papierlosigkeit’ ist in der antiziganistischen Politik bereits vorweg genommen: ‚Die Methode der Ausgrenzung der Roma in die papierlose Illegalität scheint ein zentrales Strukturmerkmal des Antiziganismus zu sein.’ (Gernot Haupt)“[7]
Die Rückbesinnung auf den starken Staat entpuppt sich insofern in doppelter Hinsicht als irrational: Nicht nur dass in einer gewaltsamen Trennung des Finanzsektors von der realökonomischen Sphäre – theoretisch völlig unzulässig – eine Folgeerscheinung der Krise, nämlich die Aufblähung der Spekulationsblasen und das Platzen derselben, als Ursache veräußerlicht wird, ist völlig illusionär; die Bezugnahme auf die suggerierte, aber real nicht existierende Kohärenz des nationalen Bezugsrahmens potenziert die Irrationalität dieser Ideologie – und damit die Wirksamkeit der antiziganistischen (und sicherlich auch anderer rassistischer) Stereotypen. Da der Nationalstaat innerhalb der transnationalen Struktur des Kapitals selbst als Subjekt der universellen Konkurrenz auf internationaler Ebene in einem permanenten Wettlauf um niedrige Steuern und „Lohnnebenkosten“ involviert ist, ist ihm jede Möglichkeit zur Intervention gegen den sozialen und ökonomischen Abfall großer Teile der Bevölkerung genommen.
Die reale Angst der Bevölkerung vor dem eigenen ökonomischen Untergang, kann nur noch schwer verdrängt werden. Es erfolgt eine Gegenbesetzung im psychoanalytischen Sinne: Es wird zunehmende Aggression frei:
„Wir müssen weiter auf folgendes hinweisen: Wenn eine Verdrängung geschwächt und im Begriff ist, zu versagen, oder wenn sie sogar tatsächlich bis zu einem gewissen Grad versagt, so bedeutet das nicht, dass der Kampf zwischen dem Ich und dem Es um die in Frage stehenden Impulse notwendigerweise beendet ist (…) Sobald der Es-Impuls (die Angst in unserem Beispiel) beginnt, zum Bewusstsein durchzubrechen, reagiert das Ich auf den Durchbruch als auf eine neue Gefahr, erzeugt wiederum das Signal der Angst und mobilisiert auf diese Weise frische Kräfte zur erneuten Abwehr gegen den unerwünschten und gefährlichen Impuls. Hat das Ich mit seinem Versuch Erfolg, so wird eine ausreichende Abwehr neu aufgebaut, sei es durch Verdrängung oder auf eine andere Weise, die ihrerseits eine neue Aufwendung von Gegenbesetzungsenergie (das heißt Aggression) durch das Ich verlangt, damit sie aufrechterhalten werden kann.“[8]
Der ruckartige Übergang der neoliberalen Ideologie in eine staatsfreundliche Rhetorik mit nationalistischen Anklängen, die Torpedierung der eigenen Prämisse innerhalb eines Satzes, das unvermittelte Verfallen in Stereotypen: Die Dialektik der Ideologien entpuppt sich als das rasende, an sich selbst irre werdende bürgerliche Bewusstsein. Suchte man noch nach einem objektiven Moment der Krisendimension, man fände es in diesen wahnhaften Szenarien.
Anmerkungen
Spiegel-Artikel „Der schwarze Herbst“ vom 13.10.08.
www.matthiaskuentzel.de/contents/adolf-ahmadinejad-vor-den-un.
http://de.youtube.com/watch?v=4OYzy_hh8sM; zuletzt eingesehen am 17.10.2008.
Robert Kurz, Das Weltkapital, Berlin, 2005, S.59.
Roswitha Scholz, Waste to Waste
Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse, Frankfurt am Main, 1978, S.83.
Fußnoten
[1] Spiegel-Artikel „Der schwarze Herbst“ vom 13.10.08.
[2] Vgl. www.matthiaskuentzel.de/contents/adolf-ahmadinejad-vor-den-un.
[3] Spiegel-Artikel „Der schwarze Herbst“ vom 13.10.08.
[4] S. http://de.youtube.com/watch?v=4OYzy_hh8sM; zuletzt eingesehen am 17.10.2008.
[5] Robert Kurz, Das Weltkapital, Berlin, 2005, S.59.
[6] S. http://de.youtube.com/watch?v=4OYzy_hh8sM; zuletzt eingesehen am 17.10.2008.
[7] Vgl. Roswitha Scholz, Waste to Waste.
[8] Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse, Frankfurt am Main, 1978, S.83.