Das Abstraktionsniveau radikaler Gesellschaftskritik misst sich nicht am Gutdünken des Kritikers oder der Kritikerin, sondern an der realen Abstraktion kapitalistischer Vergesellschaftung, die als Objekt der Kritik die Notwendigkeit theoretischer Abstraktion vorgibt. Gesellschaft als reale Verkehrung, die als fetischistischer Prozess hinter dem Rücken ihrer ExekutorInnen gleichsam durch diese hindurch sich vollstreckt, entzieht sich dem Verständnis des Alltagsverstandes, der konsequent die Reflexion auf seine eigene Borniertheit verweigert. Die gedankliche Anstrengung als Negation des gesunden Menschenverstands, als partielles Heraustreten aus der eigenen Formbestimmtheit, ist daher Bedingung der Möglichkeit von Kritik. Gerade der narzisstische Sozialcharakter der Postmoderne, welcher zum Objektbezug ohnehin unfähig ist – und nichts anderes ist die Kritik als sublimiertes Beharren bei einem Unlust bereitenden Gegenstand mit der Hoffnung auf seine baldige Abschaffung –, dessen Aufmerksamkeitsspanne so kurz wie seine Frustrationsgrenze niedrig ist, sehnt sich nach der Vereinfachung von komplexer Theoriebildung zu erstarrten Formeln, die jederzeit zur „Operationalisierung“ taugen sollen. Vergessen das auf Hegel rekurrierende Diktum Adornos, dass sich gelungene Theoriebildung gerade auch dadurch auszeichnet, sich nicht auf einen Spruch bringen zu lassen – sowenig eben, wie das „warenproduzierende Patriarchat“ (Roswitha Scholz) selbst sich auf einen Spruch bringen lässt. Der in der Linken allgegenwärtige Affekt gegen die gedankliche Abstraktion ist daher auch immer schon eine Apologie derjenigen realen Abstraktion, welche die Gesellschaft an ihren Zwangsmitgliedern vollstreckt.
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