„In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken“, sagte Hans-Werner Sinn am 27.10.2008 dem Tagesspiegel. „Auch in der Weltwirtschaftskrise von 1929 wollte niemand an einen anonymen Systemfehler glauben. Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager.“[1]
Ähnlich äußerte sich knapp zwei Wochen später Christian Wulff:
„’Ich finde, wenn jemand zehntausend Jobs sichert und Millionen an Steuern zahlt, gegen den darf man keine Pogromstimmung verbreiten’, sagte Wulff am Donnerstagabend in der N24-Sendung ‚Studio Friedman’. Am Freitag entschuldigte sich der Politiker für die Äußerung. ‚Die Verwendung des Wortes Pogromstimmung bedauere ich’, sagte er zwei Tage vor dem 70. Jahrestag der Pogrome gegen deutsche Juden.“[2]
Mit diesen Aussagen haben Hans Werner Sinn und Christian Wulff einen Sturm der Entrüstung in der medialen Landschaft ausgelöst. Politische Vertreter forderten den Rücktritt des neoliberalen Ökonomen und des Ministerpräsidenten von Niedersachsen.
„’Angesichts solcher Äußerungen hat man den Eindruck, Herr Sinn ist nicht bei Sinnen’, sagte zum Beispiel der SPD-Innenpolitiker Sebastian Edathy. Er betonte: ‚Bankmanager, die für Fehlleistungen verantwortlich sind, werden bekanntermaßen nicht wegen ihres religiösen Glaubens, sondern wegen ihres Handelns kritisiert.’“[3]
„Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion, Volker Beck, sprach in Berlin von einer ‚beispiellosen Geschmacklosigkeit’. Auch er forderte Sinn auf, seine Äußerung zurückzunehmen.“[4]
Doch ebenso schnell wie der Diskurs in dem Regal der Informationswaren zur Schau gestellt wurde, ist er nach den Entschuldigungen Sinns und Wulffs wieder verstummt – Anlass genug um stutzig zu werden. Es wäre jedoch falsch zu sagen, diesem wird der Mantel des Schweigens umgehängt. Es handelt sich hierbei nicht um eine böswillige Zensur des Denkens, sondern um das Unvermögen des bürgerlichen Bewusstseins, einen realen Zusammenhang auf den Begriff zu bringen, dessen Entstehung es theoretisch nicht durchdringen kann.
Dass die Diffamierung der Manager, wie sie durch alle Medien zirkuliert, in der Tat nicht zu vergleichen ist mit der Bestialität, welche die Juden im Nationalsozialismus zu erleiden hatten, ist richtig. Dieser falschen Relativierung ist aufs Entschiedenste entgegenzutreten. Der in diesen Vergleichen liegende Skandal besteht in der Unterschlagung der Tatsache, dass die personalisierte Hetze pervertierter Kapitalismuskritik sich im Stadium ihrer gewaltsamen Realisierung im NS ausschließlich gegen Juden richtete und von den kapitalistischen Funktionseliten, soweit sie nicht selber Juden waren, wesentlich mitgetragen wurde.
Doch zugleich enthalten die Aussagen von Sinn und Wulff auch ein Wahrheitsmoment. In ihnen artikulieren sich, wie unmittelbar auch immer, Bedenken gegen die subjektivistische Schuldzuweisung der Krise, und in ihnen drückt sich auch dunkel die Erfahrung aus, dass es einen Zusammenhang zwischen dieser subjektivistischen Kritik der ökonomischen Funktionseliten mit dem Entstehen des Antisemitismus gibt.
Die abstrakte, weil äußerliche Kritik des SPD- bzw. Grünenpolitikers, welche die Krise auf das Finanzkapital veräußert, desavouiert sich hingegen selbst als Ideologie, indem es die historische Wahrheit als Ausgangspunkt der Reflexion verweigert: Es ist unglaublich, dass das Argumentationsmuster der Identifikation des „Juden“ mit dem „raffenden“ Finanzkapital, welches die deutsche Volkswirtschaft leersaugen würde, wie es im Nationalsozialismus propagiert wurde, von nahezu allen Kommentatoren gewaltsam ignoriert wird.
Diesen, sich human verkleidenden Sätzen ist eine gewisse Potenz an Brutalität immanent. Hält die „Linke“ daran fest, dass „Bankmanager (…) für Fehlleistungen verantwortlich sind“, dann treibt diese vorherrschende Ideologie das Bewusstsein dahin, Geschichte dort zu vergessen, wo sie am meisten der kritischen Erinnerung bedarf – in Auschwitz. Würde diese Ideologie Auschwitz nicht vergessen, müsste sie sich selbst in Frage stellen. Es gehört zur Paradoxie der Geschichte, dass es die „linken“ Parteien und Bewegungen sind, welche in der Fundamentalkrise an Produktion barbarischer Ideologien den „klassischen Liberalismus“ in den Schatten stellen:
„Die Forderung der Einheit von Praxis und Theorie hat unaufhaltsam diese zur Dienerin erniedrigt; das an ihr beseitigt, was sie in jener Einheit hätte leisten sollen. Der praktische Sichtvermerk, den man aller Theorie abverlangt, wurde zum Zensurstempel. Indem aber, in der gerühmten Theorie-Praxis, jene unterlag, wurde diese begriffslos, ein Stück der Politik, aus der sie hinausführen sollte; ausgeliefert der Macht. Die Liquidation der Theorie durch Dogmatisierung und Denkverbot trug zur schlechten Praxis bei; dass Theorie ihre Selbstständigkeit zurückgewinnt, ist das Interesse von Praxis selber.“[5]
Es zeigt sich, dass die Vernachlässigung der Theorie und der Drang nach politischer Praxis ihren Preis fordern. Die fehlende theoretische Aufarbeitung, nicht zuletzt der Marxschen Theorie, rächt sich in Form dieser falschen Unmittelbarkeit, einer nicht nur „falschen Praxis“, sondern einer geradezu inhumanen, welche ihren Teil zur florierenden „Dialektik der Ideologien“ beiträgt. Es ist erstaunlich wie weit dieses Bewusstsein theoretisch hinter die Marxsche Kategorie der „Charaktermaske“ zurückgefallen ist. Die Aussage Becks, und die dieser zugrunde liegende Ideologie, die sich mit dem Slogan „links“ zu Markte trägt, unterstützt damit, was sie in ihrer falschen Unmittelbarkeit zu verhindern strebte – den zunehmenden Antisemitismus. Es zeigt sich, dass auch das „linke“ Bewusstsein in der Fundamentalkrise die Geister, die es bekämpfen möchte, nicht vertreiben kann – im Gegenteil: es bringt sie selbst mit hervor.
Doch auch das neoliberale Bewusstsein z.B. eines Hans-Werner Sinns oder eines Christian Wulffs ist nicht in der Lage, diesen Impuls weiterzutreiben und ihn kritisch zu reflektieren. Ihr Glaube, dass die Konjunktur nach ein paar Korrekturen wieder in Schwung kommt, ist das Resultat eines „kapitalistischen Urvertrauens“ (Robert Kurz), welches hilflos versucht, die selbstheilenden Kräfte des Marktes desto vehementer herbei zu flehen, je objektiver die Krisendimension in Erscheinung tritt. Denn wenn die Krise eigentlich schon gar keine ist und lediglich auf korrigierbaren Systemfehlern beruht[6], dann ist die Entwicklung der Finanzblasenindustrie gar nicht als Folge der Fundamentalkrise analysierbar, die ihren Ausgangspunkt in der Realproduktion hat, und noch viel weniger kann man dann das Problem auf der Ebene des „strukturellen Antisemitismus“ reflektieren.
Bevor es seinen eigenen Gedanken konsequent zu Ende denken vermag, flüchtet sich das liberale Bewusstsein in Apologie. Die Entschuldigung Sinns und Wulffs folgten auf der Stelle, jedem kritischen Impuls enthoben. Entgegen aller Warnungen verdummt das bürgerliche Subjekt in seiner Ohnmacht. Abgesehen von der Intention Sinns, seine liberale Ideologie zu legitimieren, welche nicht subjektives Fehlverhalten, sondern „Systemfehler“ als „wirkliche Ursachen weltwirtschaftlicher Krisen“ ausmacht, „die aufgedeckt und beseitigt werden müssen.“, birgt seine Aussage dennoch so etwas wie eine „kritische Erinnerung“ daran, dass die irrationale Zuschreibung der jüdischen Bevölkerung an das „raffende Kapital“ einen Teil jenes grausamen Antisemitismus der Hitler-Zeit darstellte. Diese „kritische Erinnerung“ darf sich nicht zugunsten der „überwältigenden Objektivität“ (Adorno) zurückziehen, um mit der Krisendimension zugleich die daraus sich entwickelnden irrationalen Bewusstseinsinhalte eskamotieren zu wollen.
Die Aussagen Hans Werner Sinns und Christian Wulffs bleiben damit, werden sie nicht kritisch-theoretisch vermittelt, zutiefst problematisch. Der Reflex der Identifikation des „Juden“ mit dem Finanzkapital, der der abendländischen Geschichte bis ins innerste Mark eingeschrieben ist[7], wird, auch gegen alle besseren Absichten, in dieser unkritischen Wendung Wind auf die Mühlen des Antisemitismus zumindest in Deutschland sein.
Um den steigenden Antisemitismus adäquat erfassen zu können, müsste die keynesianische ebenso wie die liberale Ideologie hingegen die Dimension der Krise und letztlich die Historizität des Kapitalismus selbst eingestehen. Die Dialektik der Ideologien begründet sich dabei, trotz aller postulierten Differenzen innerhalb des politischen Spektrums, in einem gemeinsamen Punkt: Der Legitimation des durch den Wert vergesellschafteten Kapitalismus – dieses Moment kristallisiert sich in der Fundamentalkrise als die Grenze der bürgerlichen Vernunft heraus. Kritische Theorie und Ideologie weisen in ihr unversöhnlicher denn je auseinander.
Die bürgerliche Vernunft muss dabei zugunsten des affirmativen Bewusstseins nicht nur Auschwitz verdrängen. Im direkten Verhältnis zur historischen Verdrängung steht die Ignoranz des momentan national und global steigenden Antisemitismus.[8]
Die Debatte um den „Judenvergleich“ reiht sich damit in einen Zusammenhang ein, dessen Schlusspunkt unausweichlich zu sein scheint. Wenn Münteferings „Heuschrecken“ und die mediale sowie politische Diffamierung von Spekulanten im Gesamtzug des zunehmenden „strukturellen Antisemitismus“ anzusiedeln waren, bildet diese Debatte eine neue Demarkationslinie: Das, wenn auch aus egozentrischen Motiven, erkannte Problem der Diffamierung von Managern in seinem unreflektiert artikulierten Zusammenhang mit dem Antisemitismus, hätte die Möglichkeit eröffnet, zumindest in Deutschland einen Diskurs über den objektiv steigenden Antisemitismus zu führen. Nicht einmal das ist geschehen. Die Grenze der bürgerlichen Vernunft scheint erreicht – und damit ein Weg beschritten, der im Zuge der sich verschärfenden Krisendynamik nur in die Barbarei führen kann.
Anmerkungen
http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/Finanzen-Hans-Werner-Sinn-Finanzkrise;art130,2645622. Zuletzt eingesehen am 13.11.08.
http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/;art271,2656064. Zuletzt eingesehen am 13.11.08.
http://www.zeit.de/online/2008/44/sinn-juden-vergleich. Zuletzt eingesehen am 13.11.08.
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1980.
Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main, 1988.
Künzel: www.matthiaskuentzel.de/contents/adolf-ahmadinejad-vor-den-un, sowie
www.matthiaskuentzel.de/contents/radio-zeesen-bruder-mahmoud-und-schwester-evelyn.
Fußnoten
[1] http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/Finanzen-Hans-Werner-Sinn-Finanzkrise;art130,2645622. Zuletzt eingesehen am 13.11.08.
[2] http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/;art271,2656064. Zuletzt eingesehen am 13.11.08.
[3] http://www.zeit.de/online/2008/44/sinn-juden-vergleich. Zuletzt eingesehen am 13.11.08.
[4] http://www.zeit.de/online/2008/44/sinn-juden-vergleich. Zuletzt eingesehen am 13.11.08.
[5] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1980, S.146f.
[6] Hans-Werner Sinn: „Mir ging es allein darum, Verständnis dafür zu wecken, dass die wirklichen Ursachen weltwirtschaftlicher Krisen Systemfehler sind, die aufgedeckt und beseitigt werden müssen.“ Siehe denselben Zeit-Artikel.
[7] „Die antisemitische Verhaltensweise wird in den Situationen ausgelöst, in denen verblendete, der Subjektivität beraubte Menschen als Subjekte losgelassen werden. Was sie tun, sind – für die Beteiligten – tödliche und dabei sinnleere Reaktionen, wie Behaviori sten sie feststellen, ohne sie zu deuten. Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde.“ (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main, 1988, S.180).
[8] Vgl. Künzel: www.matthiaskuentzel.de/contents/adolf-ahmadinejad-vor-den-un, sowie
www.matthiaskuentzel.de/contents/radio-zeesen-bruder-mahmoud-und-schwester-evelyn.