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Barbarische Normalität

von Daniel Späth 14. Oktober 2008
Verfasser Daniel Späth 14. Oktober 2008
Barbarische NormalitätHerunterladen

„Die zusammengestellten Beispiele enthalten gut Bekanntes. Das Kind introjiziert etwas von der Person des Angstobjektes und verarbeitet auf diese Weise ein eben vorgefallenes Angsterlebnis. Das Mittel der Identifizierung oder Introjektion tritt dabei mit einer zweiten wichtigen Methode in Verbindung. Mit der Darstellung des Angreifers, der Übernahme seiner Attribute oder seiner Aggression verwandelt das Kind sich gleichzeitig aus dem Bedrohten in den Bedroher.“[1]

Die Krise des globalen Kapitalismus hat objektive Dimensionen angenommen, welche die noch vor Wochen in den Medien und der politischen Landschaft zirkulierenden Verdrängungsprozesse verunmöglichen (vgl. Christian Mielenz, „Optimismus-Anfälle“). Sie kann nicht mehr geleugnet werden. Das bürgerliche Bewusstsein jedoch kettet sich an das System mit einer Vehemenz, welche die Brutalität von dreihundertfünfzig Jahren kapitalistischer Domestizierung und die Prägung von zweitausend Jahren abendländischer Kultur erahnen lässt[2]. So schreibt Jan Ross in der ZEIT: „Dieser Traum [der amerikanische Traum] hat Schaden genommen. Durch politische und militärische Überdehnung, moralisches Versagen, schamlose Gier. Und doch: Wer würde ihn nicht retten wollen?“[3]

Das bedrohte bürgerliche Subjekt, dessen Ideologiebildung schon immer aus dem Fetischcharakter des Systems und dem Mechanismus der universellen Konkurrenz resultierte, schlägt blind um sich. Struktureller Antisemitismus und (klein-)bürgerliches Bewusstsein stehen, je drastischer die Dimension der Krise zu Tage tritt, in einer gefährlichen Wechselwirkung. Dirk Kurbjuweit hat im SPIEGEL vom 06.10.2008 einen Artikel unter der Überschrift „Zeit der Krokodile“ verfasst. Der Untertitel lässt die Befürchtung wahr werden: „Die Finanzkrise lässt nicht nur Vermögen schwinden, sondern auch das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft und die Reformfähigkeit Deutschlands. Der alte Gesellschaftsvertrag wird brüchig, für einen neuen fehlt womöglich die Kraft. Das alles ist ein Werk von Spielern.“[4] Würden einem solche Zeilen nicht permanent in jeglichen Wochen- und Tageszeitungen entgegenspringen, könnte man angesichts der brutalen Naivität dieser Argumentation fassungslos werden. Die Thesen gleichen sich beängstigend; der Schuldige ist schon ausgemacht. Das Bild von Krokodilen gliedert sich in die Reihe der Heuschrecken ein.

„Die Übermacht des Objektivierten in den Subjekten, die sie daran hindert, Subjekte zu werden, verhindert ebenso die Erkenntnis des Objektiven; das ist aus dem geworden, was einmal «subjektiver Faktor» genannt wurde.“[5]

Das theoretische Niveau solcher Zeitungsartikel über den kapitalistischen Gesellschaftszusammenhang steht in umgekehrtem Verhältnis zur Krisendimension. So lange, vor allem in Krisenzeiten, die Totalität der kapitalistischen Gesellschaft auf eine partikulare Schuld gewaltsam heruntergebrochen wird, wird der Anspruch auf Humanität zur bloßen Farce. Wenn die „Erkenntnis des Objektiven“ nicht geleistet wird, zollt das falsche theoretische Bewusstsein, die Ideologie, ihren Tribut in Form von potentieller Brutalität.

„Das alles ist ein Werk von Spielern“ sagt der kleinbürgerliche Zeitungsjournalist, der doch am liebsten seine Artikel weiter schreiben würde, ohne von der lästigen Krise bedrängt zu werden. „Was jetzt geschieht, ist das Horrorszenario einer Globalisierung, die sich in zwei Bereichen abspielt. Es gibt einen realen Bereich, der in einem verstärkten Warenaustausch besteht“, in dem man ungefährdet Zeitungsartikel schreiben kann, „also in einer schärferen Konkurrenz um Arbeitsplätze, um Wohlstand, um Umweltverbrauchsrechte (!). Dies wirkt für den Einzelnen oft schon furchterregend genug, obwohl es unvermeidlich und sinnvoll sein kann.“[6]

Der gute alte rheinische Kapitalismus wird zurückersehnt, wenn auch in einer durch die Globalisierung verschärften Situation. Diese Argumentation wird an der Beliebigkeit des Gegenstandes, den sie herbeirufen möchte, obsolet. Und wiederum schlägt die Identifikation mit dem System in plumpe, extrem gefährliche Ideologie um: „So richtig unheimlich ist aber der andere Bereich. Das ist der See mit den Krokodilen. Man sieht nichts, der See liegt glatt. Aber im Dunkeln darunter passiert eine Menge. Unbemerkt haben die Bankenschnösel (!) ein Netz gespannt, haben durch Verkäufe in aller Herren Länder Zusammenhänge geschaffen, unkontrolliert, elektronisch. Sie sind stille Meister der Globalisierung (!). Sie haben eine zweite, eine heimliche Welt gebaut.“[7]

Das ökonomische Unverständnis, welches aus der Rettung des partikularen, kleinbürgerlichen Standpunktes eines Journalistenschnösels resultiert, muss die Totalität und Vermitteltheit des Systems gewaltsam ignorieren. Die Sphäre der Realproduktion, mittlerweile auch „oft schon furchterregend genug“, wird von der des Finanzkapitals einfach abgekoppelt. Die theoretische Begriffslosigkeit flüchtet sich in Dämonisierung: Das Finanzkapital wird beherrscht von den „Meister[n] der Globalisierung“, die im „Dunkeln“ agieren und ominöse „Zusammenhänge“ geschaffen haben – Verschwörungstheorie und der Anklang an den „internationalen Juden“ gehen Hand in Hand. Diese Sätze sind beängstigend und barbarisch, vor allem, da sie Ausdruck des normalen, mittlerweile alltäglich einem begegnenden (klein-)bürgerlichen Bewusstseins sind. Die „Dialektik der Aufklärung“ nimmt konkrete Züge an. Das Ausspielen der Realökonomie, des „realen Bereichs“, mit einem „verstärkten Warenaustausch“ gegen den finanzkapitalistischen Sektor ist aus zwei Gründen theoretisch völlig unzulässig:

„Folgerichtig führte die weitere Entsubstantialisierung in der dritten industriellen Revolution dazu, dass jene beschriebene strukturelle Entkoppelung des Finanzkapitals von der Realakkumulation eintreten musste: als systemischer Prozess, nicht als Phänomen qua «Gier» usw. Es ist der Notstand des nach weiterer Verwertung schreienden «automatischen Subjekts», das sich selbst den Boden unter den Füßen weggezogen hat.“[8]

Zum einen ist die Entwicklung der Finanzblasen organisch aus der Verwertungskrise der Realproduktion gewachsen. Zum anderen greift das kleinbürgerliche Bewusstsein, nicht nur dieses Journalisten-Schnösels, damit jenen Sektor an, der kurzfristig sogar die ökonomische Stütze der Realproduktion bildete. Es ist offensichtlich, dass die entsubstantialisierte Selbstverwertung des Finanzkapitals keinerlei Zukunft hat, aber sie hat doch die Realproduktion bis zu einem gewissen Zeitpunkt gestützt, indem große Mengen von „fiktivem Kapital“ in den „realen Bereich“ zurückgeflossen sind und dessen Investitionen vorantrieben. Diese theoretische Unvernunft ist beileibe keine harmlose Ideologie mehr – in ihr artikuliert sich eine zunehmend reale Vernichtungswut. Dass dieser Antisemitismus, der sich in laut kläffenden Parolen gegen Krokodile artikuliert, zumindest in Deutschland längst kein struktureller mehr ist, zeigen zwei Studien der Europäischen Kommission zur Rolle Israels in der Weltpolitik:

„In Deutschland wird über den islamischen Antisemitismus mit seiner genozidalen Tendenz nicht diskutiert, weil man eine Sichtweise, die hauptsächlich Juden, sprich: Israel, für die Probleme dieser Erde verantwortlich macht, teilt. Statistisch ist dies mit bedrückender Eindeutigkeit belegt. So hatten im Jahr 2003 65 Prozent der Deutschen in einer Umfrage der Europäischen Kommission erklärt, dass Israel «die größte Bedrohung für den Frieden in der Welt» sei – vor Iran, Syrien, Nord-Korea oder den USA. Im November 2006 ließ die BBC 28.000 Menschen in 27 Ländern fragen, welches Land die Weltpolitik am negativsten beeinflusse. 77 Prozent der Deutschen kreuzte auch diesmal Israel an. Ich schlage vor, diese Umfrageergebnisse, gerade weil sie so verrückt sind, ernst zu nehmen. Israel wird von einer Mehrheit der Deutschen nicht aufgrund einer nachprüfbaren Faktenlage, sondern nach dem unsichtbaren Drehbuch der «Protokolle der Weisen von Zion» zu einer Gefahr für den Weltfrieden und zum globalen Bösewicht stilisiert. Hier haben wir es mit einem Massenbewusstsein zu tun, das die politisch Verantwortlichen nicht weniger erst nehmen sollten, als die Bildungsmisere an deutschen Schulen. Wo aber ist der «PISA-Report», der diesen Wahn-Zustand skandalisiert, der die Wurzeln dieses Massenbewusstseins untersucht und zügig auf Veränderungen drängt? «Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt», schrieb Siegmund Freund. Mit anderen Worten: Wer Israel dämonisiert, wird auch dem Antisemitismus eines Ahmadinejad oder einer Hamas gegenüber blind. Ist es aber erst einmal so weit, beginnt eine Spirale der Ignoranz: Wer den Antisemitismus von Hisbollah und Hamas nicht wahrzunehmen vermag, verkennt das Motiv ihrer Angriffe auf Israel und wird dazu neigen, selbst noch Selbstmordattentate als «Verzweiflungstaten» zu entschuldigen. Wer Israel aber für den Selbstmord- oder Raketenterror verantwortlich macht, wird mit jeder Eskalation dieses Terrors den jüdischen Staat um so mehr verurteilen und somit immer tiefer in das Denkgebäude des Antisemitismus hineingezogen werden, was die Chance, den Antisemitismus als das eigentlich eskalierende Moment zu identifizieren, weiter reduziert und so weiter und so fort.“[9]

Die „Identifikation mit dem Angreifer“ schlägt in Krisenzeiten, wie Matthias Künzel richtig konstatiert, in irrationale, wahnhafte Ideologie um – aus dem Bedrohten wird der inhumane Angreifer. Doch dieser Antisemitismus artikuliert sich nicht mehr nur auf nationaler Ebene, wie die aktuellen Brandreden eines Ahmahdinedschad zeigen:

„In den Vereinten Nationen gab es eine Premiere: Am Dienstag dieser Woche wurde die Rednertribüne der Vollversammlung erstmals für unverhohlene antisemitische Aufstachelung genutzt. Ausgerechnet vor jener Organisation, die im Widerstand gegen die Nazis und als die Quintessenz der Lehren aus den Verbrechen des II. Weltkriegs gegründet worden war – ausgerechnet im UN-Hauptquartier konnte am 23. September 2008 die antijüdische Paranoia eines Adolf Hitlers fröhliche Urstände feiern. … Obwohl sie [die Juden] nur eine unbedeutende Minderheit seien, belehrte er die Weltgemeinschaft, «beherrschen sie doch in einer tückischen, komplexen und verstohlenen Art und Weise einen wichtigen Teil der finanziellen Zentren sowie der politischen Entscheidungszentren einiger europäischer Länder und der USA.»“[10]

So gesellt sich zu dem geifernden, gegen finanzkapitalistische Krokodile wetternden, strukturellen Antisemitismus auf der einen eine erschreckende Akzeptanz auf der anderen Seite, wenn es sich um die Infragestellung des Existenzrechtes Israels und die Theorie der jüdischen Weltverschwörung handelt:

„Neu ist, dass Irans Präsident damit vor den Vereinten Nationen reüssiert – und damit durchkommt und gar Beifall erhält!“[11].

Die Schnittpunkte dieses offenen Antisemitismus eines Ahmadinejads mit dem strukturellen Antisemitismus des kleinbürgerlichen Bewusstseins treten offen zutage. Wenn man sich, auf nationaler Ebene, die Umfragewerte der Europäischen Kommission vergegenwärtigt, scheint der Begriff des „strukturellen Antisemitismus“ zunehmend einen realen Gehalt zu bekommen: Wenn bei einer Umfrage nach der größten Bedrohung für den Frieden in der Welt 77 % der befragten Deutschen Israel diesen Status zuschreiben, mit einer Steigerung von 12% in drei Jahren, welche sich analog zur Entwicklung der Finanzblasenindustrie vollzog, dann ist der in der Tat aus strukturellem Antisemitismus ein ganz realer geworden. Noch schockierender ist jedoch, dass der offene Antisemitismus in der internationalen Politik hoffähig geworden ist – eine barbarische Normalität.

Dies zeigt, dass über die „Hep-Hep-Unruhen“ des 19. und den Antisemitismus der 20er, 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinaus eine historisch neue, durch die Entwicklung des Finanzkapitals und der daraus entspringenden Ideologie des strukturellen Antisemitismus forcierte Dimension des Antisemitismus erreicht worden ist. Diese barbarische Normalität, welche sich bei den internationalen, politischen Funktionseliten während einer so offen antisemitischen Rede Ahmadinejads – Ausdruck eines inneren Einverständnisses – einstellt, ist kein passiver Antisemitismus mehr; Auschwitz kann man nicht vergessen. Es handelt sich hierbei um aktiven Antisemitismus.

Während dieser jedoch in den 20er und 30er Jahren ideologisch noch in den nationalstaatlichen Funktionsraum des Kapitals gebannt war[12], so scheint heute, sollten sich derartige Vorfälle wiederholen, mit der UN eine Institution gegeben, welche dem transnationalen Antisemitismus ein neues Forum bietet. Es tritt somit eine gefährliche Reziprozität von strukturellem Antisemitismus, das heißt der Zuschreibung der Krisenursache des globalen Kapitalismus an gierige Banker und Spekulanten, und der Infrage-Stellung des Existenzrechts Israels zutage. Die Identifikation mit dem Angreifer und die daraus resultierende ideologische Kapitalismuskritik schlägt um in Barbarei.

„Die schiere Existenz Israels bildet eine Art Garantie dafür, dass sich der Marsch des warenproduzierenden Weltsystems in die Barbarei noch nicht vollenden kann;“[13]

Die Garantie beginnt zunehmend zu wanken.


[1] Anna Freud, Das Ich und die Abwehrmechanismen, 1984, Frankfurt am Main, 18.Auflage, 2003, S.112

[2] Der Abwehrmechanismus der „Identifikation mit dem Angreifer“, wie Anna Freud ihn beschreibt, setzt Ich-Schwäche sowohl voraus, wie er auf der anderen Seite die Ausbildung eines konsistenten Ichs verhindert. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben diesen Prozess in seiner historischen Dimension in der „Dialektik der Aufklärung“ anhand der Odyssee exemplarisch beschrieben. Aufklärung entwindet sich dem Mythos nur durch ihre Verstrickung in ihn: „Die Berechnung, dass nach geschehener Tat Polyphem auf die Frage seiner Sippe nach dem Schuldigen mit Niemand antworte und so die Tat verbergen und den Schuldigen der Verfolgung entziehen helfe, wirkt als dünne rationalistische Hülle. In Wahrheit verleugnet das Subjekt Odysseus die eigene Identität, die es zum Subjekt macht und erhält sich am Leben durch die Mimikry ans Amorphe.“ (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Mai, 1988, S.75.)

[3] „Verrat am amerikanischen Traum“, die ZEIT vom 01. Oktober 2008

[4] „Zeit der Krokodile“, SPIEGEL vom 06.10.2008

[5] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main, 1966, S.173

[6] Zeit der Krokodile“, SPIEGEL vom 06.10.2008

[7] A.a.O.

[8] Robert Kurz, Das Weltkapital, Berlin, 2005, S.334

[9] www.matthiaskuentzel.de/contents/radio-zeesen-bruder-mahmoud-und-schwester-evelyn

[10] www.matthiaskuentzel.de/contents/adolf-ahmadinejad-vor-den-un

[11] A.a.O.

[12] Vgl. Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt am Main, 2003. Z.B. das Kapitel „Arbeitsstaat und Führersozialismus“. Der Antisemitismus gegen den „Intellektuellen“ hatte in Russland seinen Begründungszusammenhang in dem Zwang zur Modernisierung und zur Industrialisierung.

[13] Robert Kurz, Das Weltkapital, Berlin, 2005, S.133

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