Wie die kapitalistische Modernisierungsgeschichte und die aus ihrem immanenten Prozess der Verwertung blindwüchsig hervorgetriebene Produktivkraftentwicklung irreversibel sind, so gilt dies auch für ihre unkritische Verarbeitung, die in Zeiten der Fundamentalkrise nicht auf deren Überwindung zielt, sondern im Gegenteil auf ihre Notstandsverwaltung hinauszulaufen droht. Der barbarische Charakter des warenproduzierenden Patriarchats kennt weder eine theoretische, noch eine antipolitische Unschuld und schon gar nicht lässt er mit sich spielen, auch wenn das postmoderne Bewusstsein den Absturz in den immer ignoranter sich vollstreckenden Konkurrenzkampf am liebsten frohlockend und wie immer happy frisch fröhlich aushandeln würde, lauert ja die nächste „Chance“ womöglich schon an der nächsten Ecke. Trotz aller vordergründigen Kritik an der Fortschrittskategorie bleibt das postmoderne Zerfallssubjekt dem teleologischen Denken verhaftet, mit dem kleinen Unterschied, dass es unter den Bedingungen der globalen Krise schlicht keine gesellschaftliche Tragfähigkeit mehr vorfindet, weshalb sein Fortschrittshorizont auf die schiere Jetztzeit zusammenschmilzt. Der Fortschrittsgläubigkeit zu huldigen, muss jedoch nicht nur zwangsläufig in einer Verleugnung der Zukunft, sondern letztendlich ebenso in einer Verdrängung der Gegenwart münden. In der postmodernen Virtualisierung der Welt kommt der bürgerliche Fortschrittswahn zu seinem bizarren Ende.
Die Grundlage für eine radikal kritische Aufarbeitung der kapitalistischen Modernisierungsgeschichte gibt dabei die Kritik der Aufklärungsphilosophie ab, die im 18. Jahrhundert ihren Fortschrittsglauben in einer kategorial affirmativen Interpretation des sich entfaltenden Kapitalfetischs fundierte. Der gesellschaftliche Fetischismus der Realabstraktion wurde auf die sogenannte Zirkulationssphäre reduziert, deren Warenaustausch eine geistig-moralische Kultivierung ihrer Subjekte induziere. Abstrakt galt der Reichtum für die Aufklärungsphilosophen einzig in dem Sinne einer geistigen Reflexionsbestimmung, wofür exemplarisch der Hegelsche Begriff der „abstrakten Arbeit“ einstehen kann, dessen Abstraktheit alleine in der analytischen Zergliederung der Waren-Geld-Beziehungen („Urteile“) bestehe. Als im ausgehenden 19. Jahrhundert hingegen der Weltgeist in Preußen stecken blieb und das Proletariat sich allmählich zu einer veritablen Modernisierungsfraktion formierte, produzierte es seinerseits ein verdinglichtes Verständnis des Wertbegriffs, das den aufklärungsphilosophischen genauso stark kritisierte, wie es ihm gleichwohl die Treue hielt. Hatte schon die Aufklärungsphilosophie die Arbeit autoritär legitimiert und zur Menschheitsbedingung schlechthin erklärt, übernahm die Arbeiterbewegung dieses protestantische Erbe. Allerdings spielte sie bei ihr nicht mehr die Rolle einer notwendigen Voraussetzung zur gesellschaftlichen Kultivierung und als Garant auf das Privateigentum im Sinne der zirkulationsideologischen Aufklärungsphilosophie, vielmehr kippte sie in eine Affirmation der Produktion selbst um, wobei Wert hier freilich ein durch und durch positiv konnotierter Begriff war. Der Fetischismus, sofern überhaupt Gegenstand kritischer Analysen, figurierte als juristisches Ausbeutungsverhältnis der eigenen scheinbar „konkreten Arbeit“ durch die KapitalistInnen.
Die innere Einheit dieses widersprüchlichen Verständnisses von „abstraktem Reichtum“ (Marx) liegt nun in dem Auseinanderfallen der jeweiligen Auffassung von „Abstraktion“ und „Konkretion“: Setze der idealistische Begriff der Aufklärung eine kontrafaktische Abstraktion (die nur geistig-moralisch sei) voraus, sodass nur sekundär eine materielle Bezugsebene zu integrieren möglich war, verharrte die Arbeiterbewegung bei einem pseudo-konkretistischen Wertbegriff, der jede Form von (wiederum lediglich als geistig verstandener) Abstraktion nur äußerlich in Form einer manipulativen Ideologietheorie an den eigenen „Materialismus“ herantragen konnte. So verpuffte ihr im Gegensatz zur bürgerlichen Philosophie immerhin vorhandener Anspruch von Gesellschaftskritik alsbald im Sand.
Dass die Arbeiterbewegung im Westen, wie auch die nachholende Modernisierungsbewegung am Rande des Weltmarkts im 20. Jahrhundert weithin nicht an die kritische Bestimmung des „abstrakten Reichtum“ von Marx heranlangten, rächte sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem darin sich ankündigenden „Kollaps der Modernisierung“ (Robert Kurz). Als hätte sie nicht spätestens seit Auschwitz die ultima ratio einer modernisierungsfixierten und ideologietheoretisch abgerüsteten Linken vor Augen, taumelte sie in weiten Teilen freudetrunken in das neue neoliberale Zeitalter, um an der Durchsetzung des postmodernen Sozialcharakters fleißig mitzustricken. Sei es in der Halluzination einer revolutionären „Multitude“, sei als akademische Fingerübung einer Marx-Philologie, als Proklamation einer „Unerkennbarkeit des Kapitals“, oder aber als antiimperialistischer Klassenkampf: Die postmodern überformte Linke in all ihrer originären Vielfalt teilte einhellig und ziemlich aggressiv die Zurückweisung der kritischen Neuinterpretation des „abstrakten Reichtums“ auf der Höhe der Zeit. Statt sich von der Marxschen Krisentheorie die Tage versauern zu lassen, erprobte sie doch lieber das Wellenreiten auf den immer kurzatmigeren Zyklen der entsubstantialisierten Finanzkonjunktur, dabei immer munter die Quartalszahlen im Auge, die als schieres Faktum der radikalen Krisentheorie um die Ohren geschlagen wurde, sobald sich ihre Ignoranz als nicht mehr länger möglich erwies. Der „abstrakte Reichtum“, der nunmehr über die zirkulativen Differenzspekulationen als „fiktives Kapital“ (Marx) kreiert wurde, schien sich in Wohlgefallen aufzulösen und zu einer rein symbolischen Angelegenheit zu werden, wobei die Linke größtenteils die liberalen Züge der poststrukturalistischen „Theorie“ einer „Politischen Ökonomie der Finanzblasen“ in sich aufsog. Sie ist im Begriff, noch einmal die letzte Modernisierungswelle hin zum allen sozialen Hemmungen entkleideten Krisensubjekt an vorderster Front voranzutreiben.
Da der „abstrakte Reichtum“ weder das Resultat einer geistigen Abstraktion, noch einfach eines konkreten Ausbeutungsverhältnisses, sondern lediglich das Abfallprodukt der fetischistischen Verwertung abgibt, unterliegt seine Produktion keinem willentlichen Akt, ist demnach zum Leidwesen der Linken also auch nicht politisch regulierbar. Im Gegenteil repräsentiert er das Resultat eines gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozesses, dessen paradoxe reale Gültigkeit nur in der Abstraktion von seinen stofflichen Voraussetzungen begründet liegt und sich deshalb in das widersprüchliche Verhältnis von „konkreter“ und „abstrakter Arbeit“ (Marx) aufspaltet. Die „gespenstische Gallerte“ (Marx) der Waren liegt in ihrem buchstäblich sinnlosen Inhalt, dessen Produktion bar jedwedem sozialen Kriterium verläuft. Ob eine Ware nun produziert wird oder eben nicht, hängt davon ab, inwieweit es dem Unternehmen gelingt, einen ausreichenden Profit in der universellen Konkurrenz auf sich zu ziehen. Seine Profitrate mag auf der Erscheinungsebene von einer Vielzahl von äußeren Faktoren bestimmt sein, als wesentlicher Hebel zu ihrer Steigerung erweist sich vor allem seine Produktivität. Der höhere Warenoutput pro gegebener Zeiteinheit stellt nun wiederum ein der konkreten Stofflichkeit gegenüber vollkommen äußeres Verhältnis dar, das auf der realen Abstraktion von dem Tätigkeitsinhalt während des Arbeitsprozesses basiert. Demnach erweist es sich hinsichtlich der menschlichen Bedürfnisse in der Tat als absolut zufällig, ob die Verwertungsmaschine medizinische Produkte, Seifenblasen oder eher doch Tourismus-Reisen ausspuckt.
Unterdessen scheint jedoch die Zeit abgelaufen, in der die Evidenz des faktisch Gegebenen als heiligster Zeuge im linken Krisentribunal angeführt werden kann, wie sie der krude Materialismus der Linken gegen die radikale Krisentheorie ins Feld zu führen sich genötigt sieht. Die selbstdestruktive Wertform sperrt sich mit jedem neuen Kriseneinbruch umso offensichtlicher der Verhandlung über den gesellschaftlichen Bedürfnisstand. Weil die „abstrakte Arbeit“ als Substanz des Kapitals eine Totalitätskategorie ausdrückt, umfasst ihr „gespenstischer“ Inhalt die gesamte materielle Ebene der androzentrischen Warenproduktion. Durch die sukzessive Entsubstantialisierung des Kapitals seit der mikroelektronischen Revolution schwindet die gesamtgesellschaftliche Mehrwertmasse derart, dass zunehmend ganze Produktionseinheiten aus der Verwertung ausgekoppelt und stillgelegt werden. Vermochte sich die westliche Linke noch eine Zeitlang vorzumachen, dass die Friktionen der Krise des „abstrakten Reichtums“ ihr in zumindest großen Teilen erspart bleiben würden, zeitigt nun auch in den westlichen Ländern die Fundamentalkrise ihre unerbittlichen Konsequenzen. Der „abstrakte Reichtum“ und die Implosion seiner Wertsubstanz legen sich wie eine Schlinge um die gesellschaftliche Produktion, die sich immer mehr zuzieht und dabei zunehmend drastisch auch die Grundbedürfnisse der Menschen zur Disposition stellt. So ist die grundlegende Nahrungsmittelversorgung von mehreren Millionen Menschen in Europa schlicht nicht mehr aufrechtzuerhalten, wie das Rote Kreuz in einem Bericht Anfang März darlegte: „Diese Nachricht zeigt die Auswirkungen der tiefen Krise in Europa so drastisch wie kaum eine offizielle Statistik: Wegen der zunehmenden Armut verteilen mittlerweile zwei Drittel der nationalen Rot-Kreuz-Gesellschaften in der EU Lebensmittelhilfen. Das habe es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gegeben, sagte der Generaldirektor des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), Yves Daccord, an diesem Montag bei einem Besuch in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi.“[1]Alleine in Spanien versorgte die Hilfsorganisation „drei Millionen (!)“[2] Menschen mit Lebensmitteln, in Rumänien waren es über „81 774 bedürftige Familien (!)“[3]. Und dies alles, obwohl es Fähigkeiten und technologische Kapazitäten genug gibt, um die Menschheit dreimal mit den notwendigen Lebensmitteln zu versorgen. Wer angesichts dieser barbarischen Zustände von der Freiheit des Subjekts und seiner ach so formidablen Vernunft schwadroniert, kann tatsächlich nur noch als esoterischer Scharlatan bezeichnet werden.
Die konkrete Armut, die aus den Trümmern des „abstrakten Reichtums“ hervortreibt, ist hierbei nicht nur eine allgemeine Katastrophe, vielmehr schlägt sich in ihr auch wesentlich eine geschlechtliche Bestimmtheit nieder. So manifestiert sich z.B. in Deutschland die prekarisierte Armut nicht „nur“ in der gesellschaftlich erzwungenen Reproduktionstätigkeit von Frauen, sondern auch in der Krise der Arbeit selbst. Wie Christa Wichterlich in ihrem Buch „Die globalisierte Frau. Berichte aus der Zukunft der Ungleichheit“ bereits Ende der 1990er Jahre ausführlich rekonstruiert, evoziert der Abbau von Arbeit eine „Feminisierung durch flexible Arbeit“[4], die das Durchgansstadium zu einer Feminisierung der Armut bilde: „Siebzig Prozent aller Armen in der Welt sind weiblich.“[5] Auch in Deutschland entpuppen sich Minijobs und zwangsflexibilisierte Arbeitssparten als Einfallstor zur Verarmung von Frauen in der „doppelten Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt)[6], die nurmehr die gesamtgesellschaftliche Reproduktion und Produktion zu gewährleisten und den Karren aus dem Dreck zu fahren haben, bei gleichzeitig lächerlicher Entlohnung. Längst schon hat das androzentrische Unbewusste der „Wert-Abspaltung“ als konstitutives Formprinzip eine Metamorphose der Geschlechtsimagines durchlaufen, wobei die sozialpsychologische und kulturell-symbolische Repräsentanz von Frauen von einem Weiblichkeitsbild zeugt, in dem Frauen neben den „Hege- und Pflegetätigkeiten“ auch noch die gut gelaunt und verständnisvoll zu leistenden Aufräumarbeiten des Trümmerfelds zugesprochen werden, die die auseinanderbrechende Wertproduktion hinterlässt.[7]
Insofern wird das Ende der Arbeit weiterhin und verstärkt nun auch in den westlichen Zentren mit einer flächendeckenden Stilllegung selbst derjenigen Produktionszweige einhergehen, die die grundlegenden Bedürfnisse der Menschheit befriedigen; mitsamt den geschlechtsspezifischen Verwerfungsprozessen einer „Verwilderung des Patriarchats“ (Roswitha Scholz). Das postmodern überformte Bewusstsein auch der Linken, sei es nun in Form der aufklärungsphilosophischen oder proletarischen Reduktion der gesellschaftlichen Realabstraktion, scheint in seinem virtuellen Eskapismus und der damit einhergehenden theoretischen Abrüstung von den gnadenlosen Friktionen der Fundamentalkrise überrumpelt zu werden und in die Krisenmitverwaltung zu stolpern, wenn nicht der über sie hereinbrechende Zusammenhang von „abstrakter Arbeit“ und konkreter Armut radikal in Frage gestellt und das Bedürfniskriterium nicht kompromisslos gegen die destruktive Form der Wert-Abspaltung hindurch zum Prüfstein der sozialen Kritik erhoben wird.
[1] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/rotes-kreuz-versorgt-millionen-europaeer-mit-lebensmittel-hilfe-a-888114.html.
[2] A.a.O.
[3] A.a.O.
[4] Christa Wichterlich, Die globalisierte Frau. Berichte aus der Zukunft der Ungleichheit, Hamburg, 1998, S.39.
[5] A.a.O., S.191.
[6] http://www.zeit.de/karriere/beruf/2013-03/studie-minijobs.
[7] Vgl. dazu z.B. Ines Kappert, die in ihrem Buch Der Mann in der Krise. Oder: Kapitalismus in der Mainstreamkultur (Bielefeld, 2008) sowie in ihren Online-Artikeln auf taz.de.