Anmerkungen zur historischen Spezifität ideologischer Konjunkturen
I.
Es ist ein Kennzeichen jeder Variante bürgerlichen Bewusstseins, dass es sich, hat es einmal einen hegemonialen Stellenwert eingenommen, bald schon wieder von der historischen Prozessualität der warenproduzierend-patriarchalen Fetischkonstitution als überholt erweist. Dabei desavouieren sich die jeweiligen Ideologien ausnahmslos dadurch, dass sie die jeweils gegebene geschichtliche Konstellation der Wert-Abspaltungs-Form analytisch fixieren, um sie gegen eine andere Epoche des Kapitalverhältnisses auszuspielen. Folgerichtig beschränkt sich der bürgerliche Kritikbegriff auch auf dieses immanente Auseinandersetzungsfeld, wobei die Kritik sich entweder positiv auf die gegenwärtige Konfiguration der Wert-Abspaltung bezieht, in deren Namen die Insuffizienz der vergangenen Epochen angeprangert wird, oder aber die Vergangenheit zu idealisieren anstrebt, in deren Glanz der Verfall der Gegenwart zum Vorschein komme. Sowohl der modernisierungsideologische als auch der verfallsideologische Bezugsrahmen verbleiben kategorial in der Positivität bürgerlichen Bewusstseins befangen, womit der eigene Kritikbegriff letztlich ad absurdum geführt wird.
Hatte diese kategoriale Positivität bürgerlichen Bewusstseins im Laufe der Modernisierungsgeschichte ihren eigenen immanenten Maßstab noch im Kampf um die gegenwärtige und zukünftige „Gestaltung“ der grundsätzlich ontologisierten Fetischkonstitution, wirft es ein trübes Licht auf die postmodernen Ideologien, dass ihre Legitimation selbst noch dieses beschränkten Reflexionshorizontes entbehrte. Besonders der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur Dominanz gelangte Neoliberalismus legte als die frühpostmoderne Ideologie par excellence beredtes Zeugnis über die neue Qualität einer Verleugnung der Gegenwart ab. Die Vorstellung vom „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) entsprang nicht allein der siegestrunkenen Selbstgefälligkeit westlicher Marktwirtschaft; in ihr verschaffte sich vielmehr eine spezifische Bewusstseinsdisposition Ausdruck, deren neue irrationale Qualität sich aus dem Zerfall der fetischistischen Realkategorien selbst speiste: Vermochte der affirmative Gedankeninhalt während der Modernisierungs- und Akkumulationsära des Kapitals die objektivierten Daseinsformen noch positiv zu besetzten, da ihm die Substanz von „abstrakter Arbeit“ und reproduktiven Tätigkeiten zugrunde lag, glitt das postmoderne Krisenbewusstsein an den zerfallenden Realkategorien ab, wodurch es buchstäblich gegenstandslos wurde.
Entsprechend zeichnete sich die poststrukturalistische „Theorie“ schon in ihren Ursprüngen durch die vollständige Eliminierung der fetischistischen Objektivität aus. So unterschiedlich sich auch die diversen Ansätze über die Jahrzehnte positionierten, diese bezeichnende Eigentümlichkeit war ihnen allesamt gemein, bis schließlich der Dekonstruktivismus als zentrale Ideologie neoliberaler Krisenverwaltung zu reüssieren wusste. Die gleichsam unmittelbar sozialpsychologische Prägung dieser Ideologie, deren Rücknahme der verselbstständigten Objektivierung gesellschaftlicher Fetischkonstitution in das abstrakte Ich mit der narzisstischen Rückwendung der Objektlibido auf eben jenes Ich korrespondiert, manifestierte selbst noch im Vergleich mit den Ideologien der Modernisierungsära einen neuen Grad an Irrationalität.
Da die Denkform des radikalsubjektivistischen Dekonstruktivismus in den westlichen Zentren von der mit der neoliberalen Krisenverwaltung einhergehenden Zwangsindividualisierung bedingt war, repräsentierte auch die politische Funktionsintelligenz mal mehr, mal weniger den entsprechenden Sozialcharakter. Ein besonders imposantes Beispiel des neoliberalen Zeitgeistes gibt dabei Angela Merkel ab. Ob nun Kopfpauschale, Europolitik, Wehrpflicht oder Atomenergie – noch in jedem Themenbereich, der in irgendeiner Form Relevanz im öffentliche Diskurs erlangte, vollzog sie in ihrem Standpunkt eine Wendung um 180 Grad, sobald es ihr als politisch opportun erschien: Angela Merkel repräsentiert die „ideelle Gesamtdekonstruktivistin“ schlechthin. Und genau dadurch war sie gleichsam dazu prädestiniert, bei ihrem demokratischen Stimmvieh zum personifizierten Vertrauen zu avancieren. Sie hat sogar die Courage, in den entscheidenden Themen von heute auf morgen den Standpunkt zu wechseln! Ist das nicht wahrhafter Pragmatismus?
II.
Vor diesem Hintergrund lag es nahe, dass einmal das Schlagwort der „Postfaktizität“ die Runde machen würde. Allein: Es handelt sich hierbei nicht etwa um eine Bezeichnung für das frühpostmoderne Krisenbewusstsein und seinen notorischen Anti-Objektivismus, sondern im Gegenteil um die Klassifizierung jener spätpostmodernen Notstandsideologie, die seit 2008 scheinbar unaufhaltsam in Richtung Faschisierung der westlichen Zentren drängt. Dass das Adjektiv „postfaktisch“ zum „Wort des Jahres 2016“ gekürt wurde, erweist sich als Teil eines Rückzugsgefechts neoliberaler Funktionsintelligenz, deren Tage allerdings gezählt sind. Die von der gesellschaftlichen Krisendynamik überholten Prämissen des neoliberalen Dekonstruktivismus stellen sich als ganz und gar haltlos heraus.
Wenn der realitätsverleugnende Dekonstruktivismus in seinem letzten Rückzugsgefecht nun ausgerechnet eine Faktenorientiertheit für sich zu reklamieren beansprucht, um das spätpostmoderne Notstandsbewusstsein[1] des Neofaschismus auf diese Weise als „postfaktisch“ darzustellen, wird die ganze Hilflosigkeit der neoliberalen Funktionsintelligenz offenbar. Denn in Wahrheit zeugt die als Populismus bezeichnete Notstandsideologie viel eher von einer Hinwendung zur Faktizität als der realitätsverleugnende Dekonstruktivismus. Dass die Dekonstruktion des Gegenstandes zunehmend seiner unmittelbaren Setzung weicht, ist eine von der Krisenentwicklung selbst präformierte Verschiebung innerhalb der bürgerlichen Denkform, weshalb die spätpostmoderne Notstandsideologie in eine Emphase des neuerlichen Gegenstandsbezugs mündet. Tatsächlich ist es die spätpostmoderne Ideologie, die einen neuen Fanatismus der Sachlichkeit verkörpert[2].
Diese im Notstandsbewusstsein zutage tretende Antizipation des Objekts, die dessen Dekonstruktion nach und nach zu substituieren beginnt, erweist sich hierbei freilich als nicht weniger zwanghaft als jene. Im Gegenteil bildet sie die basale Matrix aller Verschwörungs- bzw. Manipulationstheorien, die seit der Finanzkrise 2008 nun auch in weiten Teilen der westlichen Zentren fröhliche Urständ feiern. Der mit einer paranoiden Disposition einhergehende Verfolgungswahn kann es nicht bei der Leugnung des Objekts belassen; er ist von der Konkretisierung der „Verfolger“ geradezu besessen, deren manipulative Machenschaften ein für allemal zu brechen wären. Was erkenntniskritisch als Bezugnahme auf das Objekt erscheint und sich als neuer Fetischismus der Faktizität ankündigt, entspricht der obsessiven Suche nach dem Manipulator, weshalb der neue Sachlichkeitsfanatismus immer schon nahe am Antisemitismus ist. Der Neofaschismus jedenfalls hat diesbezüglich jedwede Hemmung längst schon abgelegt und schwadroniert inzwischen ganz explizit vom „zionistischen Geist“.
Es versteht sich also von selbst, dass der spätpostmoderne Positivismus der Faktizität keinen Funken realitätsgerechter ist als der einer frühpostmodernen Beliebigkeit. Als unheilige Allianz von Positivismus und Irrationalismus kulminiert in der neofaschistischen Manipulationstheorie die Wahnhaftigkeit bürgerlichen Bewusstseins. Exemplarisch lässt sich dieser Zusammenhang an Franz Hörmann aufweisen, der sich als glühender Vertreter des Popperschen Positivismus erweist und gleichzeitig über außerirdische Wesen und Reinkarnation sinniert.[3] Es ist die Unwirklichkeit einer zukunftslosen Alternative von neoliberaler Krisen- und neofaschistischer Notstandsverwaltung, welche dem Schattenboxen um die vermeintliche „Postfaktizität“ derart gespenstische Züge verleiht.
III.
Allen wechselseitigen Abgrenzungsrhetoriken zum Trotz handelt es sich bei frühpostmodernem Dekonstruktivismus und spätpostmoderner Sachlichkeitshypostase um zwei komplementäre Ideologien. Bereits die den beiden epistemologischen Matrizes innewohnende Einseitigkeit wirft ein erstes Licht auf ihre innere Komplementarität. Fasst man/frau das Verhältnis beider Ideologien auf der abstraktesten erkenntniskritischen Ebene, dann erweist sich die immanente Wechselseitigkeit von Dekonstruktivismus und Sachlichkeitsemphase als die grundsätzliche Verfehlung jener zentralen, von Marx im Kapital aufgeworfenen Frage: „Warum nimmt dieser Inhalt jene Form an?“
Das bürgerliche Bewusstsein muss nämlich gerade deshalb prinzipiell an der Beantwortung dieser Frage scheitern, weil es ob seiner identitätslogischen Konstitution entweder die Form a priori setzt, um ihr nachträglich einen Inhalt zu geben, oder aber auf den Inhalt Bezug nimmt, der aus sich heraus seine eigene Form generiert. Es liegt in dem fetischistischen Gehalt warenproduzierend-patriarchaler Vergesellschaftung begründet, dass „objektive Daseinsformen“ und „objektive Gedankenformen“ (Marx) im gesellschaftlichen Prozess auseinanderfallen, weshalb sie vom bürgerlichen Bewusstsein für sich genommen und dadurch gegeneinander fixiert werden. Wahlweise erscheint dann entweder ein geistig-ideelles Prinzip als Motor der gesellschaftlichen Wirklichkeit oder aber es wird gerade andersherum die geistige und ideologische Dimension aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der „Stellung im Produktionsprozess“ abgeleitet. Das ist der Grund, warum sich die bürgerliche Philosophie und Wissenschaft seit der Durchsetzungsepoche der Aufklärung beständig im Widerspruch von Idealismus und Materialismus bewegt.
In diesem Sinne artikulierte sich im dekonstruktivistischen Idealismus die Verselbstständigung der Form gegenüber dem Inhalt, wofür schon die primäre Kategorie des „Diskurses“ paradigmatisch stehen kann: Der dekonstruktivistische Idealismus ist realiter ein Formalismus. Von diesem formalistischen Impetus rührte dann auch der Affekt gegen jede Inhaltlichkeit und gegen jedes Naturmoment her, wie er dem frühpostmodernen Virtualismus inhärent ist. Auf der anderen Seite erweist sich der sachlichkeitshypostasierende Materialismus hingegen als Verselbstständigung des Inhalts gegenüber der Form. Der daraus erwachsende Affekt gegen die Form spiegelt sich im Neofaschismus in einer verfallsgeschichtlichen Anschauung wider, welche die Formierung durch die Kultur abzustreifen gedenkt, indem sie sich auf das von ihr vermeintlich unbeleckte Sein vormoderner Sozietäten kapriziert, welche noch nicht von der modernen Prägung des Lebens korrumpiert gewesen seien. Die Verselbstständigung des Inhalts gegenüber der Form kehrt im spätpostmodernen Materialismus als Naturalismus wieder.
Indessen wäre es eine Verkürzung dieser oppositionellen, aber sich gleichwohl bedingenden Polarität von neoliberaler Krisen- und neofaschistischer Notstandsverwaltung, würde sie als ein abstrakter Gegensatz verstanden. Die in der Gespaltenheit konstituierten Konstellationen des bürgerlichen Bewusstseins vermögen es nicht, in ihrer Einseitigkeit bei sich zu bleiben; die fetischistische Realität kann zwar verzerrt und ausgeblendet werden, aber sie stellt ihren inneren Zusammenhang wider Willen im Resultat der Reflexion her. So nimmt es nicht weiter wunder, dass der verkappte Naturalismus – der anti-naturalistischen Aversion zum Trotz – im dekonstruktivistischen Idealismus einer Judith Butler in ihren neueren Schriften anhand einer Ontologie der Körperlichkeit zutage tritt; und auch der sachlichkeitsfetischisierende Naturalismus ist seinerseits ein verkappter Idealismus, geht es ihm im Wesentlichen um ein geistig-spirituelles Umdenken, das, einmal vollzogen, die materielle Umstrukturierung der Gesellschaft als Kinderspiel erscheinen lasse.
IV.
Die innere Identität beider Ideologien lässt sich nun nicht nur in ihrer immanenten Wechselseitigkeit aufweisen. Sie stimmen schon in der grundlegenden epistemologischen Struktur völlig überein. Was in beiden Denkformen als ein dem Subjekt gegenüberstehendes Objekt auftaucht – das vom Subjekt entweder geleugnet oder aber gesetzt werden könne – kündet von der Eingliederung der gesellschaftlichen Fetischkonstitution in die Denkformen des Erkenntnissubjekts, deren objektivierte Gegenständlichkeit als in sich dynamische Totalität zu einem dem Subjekt adäquaten Gegenstandsbezug – eben seinem Objekt – neutralisiert wird.
Was in der bürgerlichen Subjekt-Objekt-Spaltung also außen vor bleiben muss, ist der spezifische Überhang der objektivierten Fetischkonstitution als spezifisch gesellschaftliche und historische Voraussetzung. Und da sich dieser Überhang in den einzelnen Entwicklungs- bzw. Zerfallsperioden der Wert-Abspaltungs-Form durchaus unterschiedlich gestaltet, weil er von ihrem konkret vorherrschenden intensiven Verdichtungsgrad abhängig ist, geht der identitätslogischen Reflexion im Raster der Subjekt-Objekt-Spaltung neben der gesellschaftlichen Konstitution auch deren konkret historische Vermitteltheit verlustig. Was für die bürgerlich-wissenschaftliche Denkform im Allgemeinen seine Bewandtnis hat, trifft auch auf die komplementäre Konstellation von neoliberalem Formalismus und neofaschistischem Naturalismus zu: Ihre Ideologien können erst dort anfangen, wo der Zwang der fetischistischen Vergesellschaftung zum Verstummen gebracht ist.
Der spezifische innere Zusammenhang beider Ideologien kann demnach nur dadurch auf den Begriff gebracht werden, dass sie mit ihrem historisch und gesellschaftlich konkreten Bedingungszusammenhang der globalen Wert-Abspaltungs-Form vermittelt werden. Vor diesem Hintergrund einer kritischen Reflexion auf die genuin historische Krisendynamik des fetischistischen Überhangs gewinnt der idealistische Dekonstruktivismus die Funktion eines historischen wie ideologischen Durchlauferhitzers hin zur spätpostmodernen Barbarisierung. Dass die Verschwörungs- und Manipulationstheorien seit der Finanzkrise von 2008 allerorten wie Pilze aus dem Boden schießen können, dazu bedurfte es des ideologischen Trümmerfelds frühpostmoderner Realitätsleugnung, deren Dampframme der Dekonstruktion jede inhaltliche Konkretion schon im Ansatz plattwälzte und damit den Weg für die Verwahrlosung des Notstandsbewusstseins ebnete.
Als von der Krisenentwicklung seit 2008 objektiv überholtes Bewusstsein beweist der neoliberale Dekonstruktivismus ein letztes Mal seinen ausgemachten Sinn für Flexibilität, indem er sich der neofaschistischen Notstandsverwaltung Schritt für Schritt anheimelt. Die Metamorphose hin zum spätpostmodernen Sachlichkeitsfanatismus ist eine gesamtgesellschaftliche, weil sie sich aus der konkreten Stellung der westlichen Zentren zur globalen Entwertung speist. Wenn der akademische Dekonstruktivismus auf einmal einen „Neuen Realismus“ entdeckt[4] oder die Queer-Theorie schon seit längerem begonnen hat, bei der Wert-Abspaltungs-Kritik Anleihen zu machen, wird absehbar, dass der frühpostmoderne Dekonstruktivismus, um vor dem veränderten gesellschaftlichen Hintergrund des potenzierten Entwertungszwangs noch bei sich bleiben zu können, sich selbst Zug um Zug in den Materialismus der Sachlichkeitshypostase flüchten wird.
V.
Der politisch-mediale Hype um die „Postfaktizität“ des europäischen Rechtsrucks ist demnach als äußerst doppelbödiger Versuch der neoliberalen Funktionseliten zu dechiffrieren, sich als Bollwerk der Vernunft in Szene zu setzen. Die damit verbundene Mahnung, dass der mit der „Postfaktizität“ verbundene Stellenwert von „Gefühlen“ im politischen Diskurs doch auch bitteschön in die Parteiarbeit aufgenommen werden müsse, verdeutlicht einmal mehr die sich anbahnende realgeschichtliche Symbiose von Dekonstruktivismus und Naturalismus. Die Haltlosigkeit des neoliberalen Zeitgeistes ist nicht mehr zu übersehen, wenn nun ausgerechnet jene Flügel der politischen Funktionsintelligenz auf eine Stringenz der Faktizität pochen, die über die letzten Jahrzehnte jede gesellschaftliche Bestimmtheit „performativ“ verschoben oder in den virtualisierten Diskurs aufgelöst haben. Die realen Querfront-Prozesse zwischen neoliberaler Funktionsintelligenz und Neofaschismus ergeben sich neben der spezifischen Konstitution durch eine „postmodern-immanente Wende“[5] auch aus dieser Haltlosigkeit der eigenen dekonstruktivistischen Axiomatik.
Wenn schon der Begriff der „Postfaktizität“ irgendeine Relevanz beanspruchen kann, dann ausschließlich für den Epochenbruch hin zur postmodernen Fundamentalkrise, der sich erstmals im Zusammenbruch der Sowjetunion manifestierte. Die völlige Unmöglichkeit, sich auf der Grundlage des kollabierenden Weltkapitals noch positiv auf die Wert-Abspaltungs-Form und die ihr inhärenten Realkategorien beziehen zu können, weil ein zerfallendes gesellschaftliches Verhältnis nun einmal nicht besetzt werden kann, ist ein Phänomen der frühen Postmoderne und nicht der „postmodern-immanenten Wende“ seit der Finanzkrise von 2008. Der realitätsverleugnende Dekonstruktivismus stellte nur die Chiffre für diese neue irrationale Qualität des postmodernen Krisenbewusstseins dar; er selbst war es, der das Zeitalter der „Postfaktizität“ eröffnete. Der Aufstieg des Neofaschismus ist der zugespitzte Ausdruck dieser Barbarisierungstendenz unter den Bedingungen einer nunmehr direkten Entwertung des westlichen Kapitals.
Abgesehen von diesen mit der politischen und medialen Inszenierung eines Zeitalters der „Postfaktizität“ Hand in Hand gehenden legitimatorischen Eskapaden, ist dieser Begriff an und für sich als Index falschen Bewusstseins zurückzuweisen. Das mit ihm eröffnete Auseinandersetzungsfeld zwischen einer den Fakten treuen Politik, die sich einem faktenjenseitigen Populismus konfrontiert sehe, hat sich von Vornherein der Immanenz fundamentaler Krisenvergesellschaftung verschrieben. Das factum brutum ist inexistent; in der fetischistischen Konstitution ist die Tatsache ein Produkt der Erscheinung, die in ihrer abstrakten Existenz die Vermitteltheit mit der sie hervorbringenden Wert-Abspaltungs-Form getilgt hat.
In der fundamentalen Krise des Weltkapitals und der von ihr erzwungenen Verdichtung der gesellschaftlichen Lebensweise zur reinen Immanenz spitzt sich das Paradoxon der fetischistischen Konstitution noch einmal zu: Je unerbittlicher der Entwertungszwang der gesamtgesellschaftlichen Konstitution sich geltend macht, je gnadenloser also der zum Weltkapital agglomerierte fetischistische Überhang seinen Tribut fordert, desto mehr wird das Krisenbewusstsein auf die abstrakte Unmittelbarkeit geeicht. Der Kampf um die „(Post)Faktizität“ zwischen neoliberalem Dekonstruktivismus und neofaschistischem Sachlichkeitsfanatismus erweist sich somit als Schlachtfeld der zur reinen Immanenz verkommenen Bewusstseinsformen bürgerlicher Krisensubjektivität, auf dem beide Parteien um die hegemoniale Position der anstehenden Notstandsverwaltung ringen.
Um sich hier überhaupt einen Überblick in der paranoiden Unrast des spätpostmodernen Zeitalters verschaffen zu können, bedürfte es stattdessen einer kritisch-theoretischen Distanz, die den Zerfall der westlichen Staaten sowohl in seiner historischen Genese als auch in Bezug auf die gesellschaftliche Krisenkonstitution der globalen Wert-Abspaltungs-Form erklären kann. Statt einem Unmittelbarkeitskultus zu frönen, der in der zur totalisierten Immanenz versteinerten Alternative von „Faktizität“ vs. „Postfaktizität“ hin- und herpendelt, ist es unabdingbar, die Vermitteltheit der nun auch in den westlichen Zentren durchschlagenden Krisenprozesse mit der objektivierten Prozessualität der Wert-Abspaltungs-Form zu rekonstruieren. Die einer solch radikalen Kritik vorausgehende theoretische Distanz kann nicht einfach vom Himmel fallen oder abrupt aus der Unmittelbarkeit spätpostmodernen Notstandsbewusstseins geschöpft werden; wie die Geschichte der wert-abspaltungs-kritischen Theoriebildung deutlich macht, kann sie nur auf der Basis einer über Jahrzehnte entwickelten kritischen Theorie erwachsen, die auf den verschiedenen Ebenen der „konkreten Totalität“ (Roswitha Scholz) die realfetischistische Prozessualität der Wert-Abspaltungs-Form kritisch zur Darstellung bringt. Gerade im Zeitalter postmoderner Unmittelbarkeit wird dabei leicht vergessen, dass die wesentlichen ProtagonistInnen, welche die Wert-Abspaltungs-Theorie nur durch eine resistente Hartnäckigkeit überhaupt erst ausarbeiten und entwickeln konnten, in ihrer eigenen Lebensgeschichte dafür in vielerlei Hinsicht Widrigkeiten in Kauf nahmen und bis heute nehmen.
Der herrschende Zeitgeist mit dem Neofaschismus an seiner Spitze verdankt sich demgegenüber der Panik des postmodernisierten Kleinbürgertums, in der anstehenden Entwertung noch die letzten Pfründe zu verlieren. Die allumfassende Konzepthuberei, die sich einen „Kapitalismus ohne Wachstum“, ein „Geld ohne Zins“ oder aber eine „physische Ökonomie“ halluziniert, gibt überdies das Produkt eines nonkonformistischen Aufstandes von Leuten ab, deren Biographien von neoliberalen Mainstreamkarrieren nur so strotzen. Was sich hier als „Systemopposition“ in Schale wirft, setzt sich aus dem Establishment par excellence zusammen; kein/e Protagonist/in von „AfD“, „Mahnwachen“ und „Pegida“, der/die nicht eine Karriere im angeprangerten Mainstream vorzuweisen hat. Im Neofaschismus kommt zur Geltung, was die historisch konkrete Situation einer „postmodern-immanenten Wende“ auszeichnet: Der ehemalige Neoliberalismus selbst ist es, der in die inhärente Alternative einer spätpostmodernen Notstandsverwaltung umkippt.
Was allerdings auch denen völlig abhanden gekommen ist, die von linker Seite die „Kapitalismuskritik“ für sich gepachtet zu haben glauben, drückt sich eben in jener kritisch-theoretischen Distanz radikaler Gesellschaftskritik aus, welche auf die Vermitteltheit der sich anbahnenden Notstandsverwaltung pocht, die in ihrem geschichtlichen Gewordensein auf die objektivierte Prozessualität der globalen Wert-Abspaltungs-Vergesellschaftung zurückweist. Die spezifische Negation der verschiedenen Dimensionen der „konkreten Totalität“ ist und bleibt die unumgängliche Voraussetzung für die kategoriale Negation, die Überwindung der warenproduzierend-patriarchalen Fetischkonstitution durch eine transnationale soziale Gegenbewegung. Wenn diese Gegenbewegung gegenwärtig auch vollkommen inexistent ist, ihr konkretes Kriterium wird auch in Zukunft die „kategoriale Kritik“ (Robert Kurz) des Wert-Abspaltungs-Fetischismus in seiner jeweils spezifischen Konstitution sein.
Da radikale Kritik nicht darauf warten kann, bis die linke Version der dekonstruktivistischen Unkritik ihre drei Jahrzehnte währende Themenverfehlung am Sankt-Nimmerleins-Tag von Grund auf aufgearbeitet hat, vermag sie im status quo einer paranoiden Weltgesellschaft nur mehr, die konkreten Bedingungen für eine globale Abschaffung warenproduzierend-patriarchaler Fetischvergesellschaftung offenzulegen, indem sie die historischen Metamorphosen im Zerfallsprozess der globalen Fetischvergesellschaftung samt den ihm entspringenden Ideologien einer kritischen Analyse unterzieht. So bleibt dem in radikaler Kritik bewahrten Gedanken an die Transzendierung krisenkapitalistischer Vergesellschaftung wenigstens noch übrig, dem zerfallenden Bewusstsein seine letzte Illusion zu rauben: Dass die „Faktizität“ bürgerlicher Krisenvergesellschaftung nicht nur die beste aller Welten, sondern ohnehin naturgegeben sei.
[1] Die Unterscheidung zwischen einer frühen und einer späten Postmoderne, die sich über den Verlauf der globalen Krisenprozesse seit der Mikroelektronischen Revolution herstellt, kann hier nicht weiter entfaltet werden. Dafür wäre eine umfassende Reflexion auf die objektivierte Krisendynamik von Nöten, wie sie in dem ersten Teil des in der kommenden EXIT!-Ausgabe (Nr. 14) erscheinenden Aufsatzes „Querfront allerorten!“ ausführlich dargelegt werden wird.
[2] Man/frau denke nur an Thilo Sarrazin und sein notorisches Berufen auf Fakten und die Sache an sich.
[3] https://www.youtube.com/results?search_query=ufos+hörmann.
[4] Roswitha Scholz wird sich diesem Sachverhalt auf erkenntniskritischer Ebene in der übernächsten EXIT!-Ausgabe widmen (Nr. 15).
[5] Hier sei erneut auf den Text „Querfront allerorten!“ verwiesen.